25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
15.10.11 / Jetzt kommen die Qualifizierten / Auf der Flucht vor der Krise daheim: Berlin zieht gut ausgebildete junge Südeuropäer an

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-11 vom 15. Oktober 2011

Jetzt kommen die Qualifizierten
Auf der Flucht vor der Krise daheim: Berlin zieht gut ausgebildete junge Südeuropäer an

In Deutschland herrscht Fachkräftemangel, in vielen von Finanz- und Wirtschaftskrisen betroffenen EU-Staaten Jugendarbeitslosigkeit. Jetzt kommen qualifizierte junge EU-Bürger nach Deutschland – ihr Lieblingsziel: Berlin.

Noch im August kritisierte die EU-Kommission Deutschland, weil die Bundesrepublik in bestimmten Fällen angeblich den Zuzug von EU-Bürgern behindere. Bei der Familienzusammenführung und der Ausweisung von EU-Bürgern verletze deutsches Recht die europäischen Vorschriften. Ein Vertragsverletzungsverfahren sei bereits eingeleitet, so Brüssel. Zumindest in der Hauptstadt Berlin sind vermeintliche Hindernisse für den Zuzug von EU-Bürgern derzeit nicht zu sehen, im Gegenteil. Viele EU-Bürger, besonders junge Menschen aus den von wirtschaftlichen Krisenerscheinungen geplagten EU-Staaten, zieht es an die Spree.

Dahinter steckt eine alarmierende Zahl: Die Arbeitslosigkeit bei jungen Menschen in der EU ist seit 2009 von 15 auf 20 Prozent hochgeschnellt. Betroffen sind vor allem Spanien, Griechenland, Portugal und Irland. In Deutschland hingegen gibt es Arbeit, während immer weniger Junge auf den Markt drängen. Besonders Berlin holte jüngst in deutschen Ranglisten zur wirtschaftlichen Dynamik deutlich auf. Trotz Strukturproblemen und wenig Jobs in der Industrie bescheinigte die arbeitgeberfinanzierte Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) der Metropole einen „rapiden Aufschwung“. Das klingt verheißungsvoll.

Die Schlagzeilen beherrschen zwar „bildungsferne“ Roma aus Bulgarien und Rumänien, die sich verstärkt in der Hauptstadt unter dem Schutz der EU-Niederlassungsfreiheit ansiedeln und oftmals Probleme machen. Die neueste Zuwanderungswelle aber wird offenbar von qualifizierten Arbeitskräften dominiert, die ihre Zukunft keineswegs auf deutschen Sozialämtern sehen. Diese Entwicklung beobachten jedenfalls privatwirtschaftliche Arbeitsvermittler.

Die Arbeitsvermittlungsagentur „World Wide Working“ im spanischen Alicante bereitet Spanier mit Sprachkursen auf ein Berufsleben in Deutschland vor. Viele Iberer wollen demnach in Deutschland arbeiten, kehren aber „frustriert und emotional verletzt“ zurück, so die Agentur im Internet: Die meisten hatten offenbar massiv unterschätzt, dass ausreichende Deutschkenntnisse in Deutschland unerlässlich sind, wenn man hier Erfolg haben will. Mit Deutschkursen will das Institut nun Abhilfe schaffen.

Gerade Berlin sei vielen von Billigreisen bekannt und werde so zum Ziel beruflicher Träume. „Zwar wissen sie, dass es nicht leicht ist“, an der Spree eine Anstellung zu bekommen, doch gingen viele im Glauben, es schaffen zu können, so Institutsgründer Manuel Wagner zur der Wochenzeitung „Die Zeit“.

Die neue Anziehungskraft der Hauptstadt wird indes von der lokalen Berliner Politik kaum beachtet. Stattdessen feiern staatliche Institutionen derzeit die Jubiläen der Gastarbeiteranwerbung. So wurde vor 55 Jahren der erste Anwerbevertrag mit Italien unterzeichnet.

Lange schien ein erneuter Zustrom aus Italien, Spanien oder Portugal wie in den 50er und 60er Jahren undenkbar. Inzwischen jedoch hängen in den Universitäten und Arbeitsvermittlungen dieser Länder wieder jede Menge Anschläge, die für Arbeit in Deutschland werben. Berlin profitiert dabei vor allem von seinem Ruf als Hauptstadt der Kreativen und Metropole mit vergleichsweise geringen Lebenshaltungskosten.

Das Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) untersucht den neuen Trend. Es bescheinigt generell noch viele Probleme und Hürden für die grenzüberschreitende Arbeitssuche von EU-Bürgern, doch sei Berlin eines der städtischen Zentren in Europa mit bereits hohem grenzüberschreitenden Pendlerverkehr. Das lässt den Schluss zu, dass die Stadt womöglich besser auf arbeitsuchende EU-Grenzgänger vorbereitet ist, als manche andere deutsche Großstadt. Laut dem Institut weiß man zwar noch nicht viel über die neuen Wanderungsströme, qualifizierten Spaniern und Griechen rechnen die Arbeitsforscher jedoch gute Chancen aus.

Die Bundesregierung hat den neuen Trend, anders als Berlins Senat, bereits im Blick: Um Berufsabschlüsse der EU-Bürger besser bewerten und prüfen zu können, hat das Bundeswirtschaftsministerium das Institut der Deutschen Wirtschaft beauftragt, ein „Informationsportal für ausländische Berufsqualifikationen“ (http://www.bq-portal.de) ins Leben zu rufen. Seit September bietet es erste Informationen.

Berlin lockt derweil in seiner Funktion als bekanntes Tourismuszentrum krisengebeutelte Europäer, ohne sich politisch aktiv für sie stark zu machen. Dabei bleiben laut Studien im Gesamtgebiet Berlin-Brandenburg 270000 Stellen bis 2015 unbesetzt, größtenteils mangels passender Bewerber. Es sind vor allem Stellen für gut Ausgebildete.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) schlug hingegen im Juli Anwerbeprogramme für qualifizierte Südeuropäer vor. Und auch die Bundesagentur für Arbeit zeigt in Griechenland, Portugal und Spanien Initiative. Der besondere Vorteil Berlins ist somit mehr Zufall und weniger ein Verdienst der Politik. Der Großteil des Elans, mit dem sich die regierende SPD wie auch ihr bisheriger Koalitionspartner Linkspartei für die Aufnahme minderqualifizierter Ausländer einsetzen, scheint verflogen, wenn es um gebildete, produktive Zuwanderer geht. Sverre Gutschmidt


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren