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15.10.11 / Zweimal alles verloren / »Wege übers Land« waren Wege des Schreckens: Ein Erlebnisbericht des Grauens

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-11 vom 15. Oktober 2011

Zweimal alles verloren
»Wege übers Land« waren Wege des Schreckens: Ein Erlebnisbericht des Grauens

Ich habe den 1968 entstandenen fünfteiligen Film „Wege übers Land“ des DDR-Fernsehens gesehen. Er war ganz interessant und auch spannend und besetzt mit bekannten Schauspielern aus der DDR, wie Ursula Karusseit, Armin Müller-Stahl, Angelika Domröse und Erik S. Klein.

Die Handlung des Films verlief genau nach den vorgegebenen politischen Richtlinien der SED-Führung unter Walther Ulbricht. Nur so war es zur damaligen Zeit überhaupt möglich, das Thema „Flucht und Vertreibung“ öffentlich zu machen, eben nach dem in Beton gegossenen Dogma „Wir Deutsche waren an allem schuld“.

Auch meine Familie musste diese „Wege übers Land“ gehen, von Ende Oktober 1944 bis Anfang September 1945, von Auertal (Stumhorn) an der ostpreußisch-litauischen Grenze bis nach Kreischau in der damaligen Provinz Sachsen. Fast ein Jahr lang waren wir mit Zwischenstationen auf diesen Wegen unterwegs. Diese Wege waren für uns Wege des Schreckens: Mein Vater wird seit Februar 1944 in der Ukraine vermisst. Im Januar 1945 zogen auch wir mit unzähligen anderen Vertriebenen über das zugefrorene Frische Haff, attackiert von russischen Tieffliegern, dann entlang der Ostseeküste.

Ich sehe noch heute endlose Straßen voller Eis und Schnee vor mir und rieche den beißenden Qualm brennender Städte. Ich bin müde, habe Hunger und meine Füße schmerzen, Tote liegen am Wegesrand und über uns das stählerne Dröhnen feindlicher Flugzeuge. Ich stehe mit dem Großvater hinter verlassenen Kasernen auf Abfallplätzen, der Großvater kratzt mit dem Taschenmesser dick verschimmelte trockene Brotrinden ab und gibt sie mir, ich stecke sie in den Mund und esse sie, obwohl sie gallebitter schmecken.

Im Frühjahr 1945 will mich ein russischer Soldat erschießen, noch jahrelang erlebte ich im Traum immer wieder diese Szene und schrie wie am Spieß. Ich springe nach Bombenangriffen über zischende und flackernde Reste von Phosphorbomben auf verbrannten Straßen.

Im Juli 1945 starb in Berlin meine Mutter an Typhus und Lungenentzündung. Als wir im September 1945 in Kreischau, Kreis Weißenfels ankamen, waren wir alle ausgehungert, erschöpft und sehr krank. Auf dem Platz des 21. September wurde das Land des im Juli 1945 mit den Amerikanern in den Westen gegangenen Rittergutbesitzers Baron von Lübbers aufgeteilt, auch meine Großeltern erhielten fünf­einhalb Hektar Land (22 Morgen). Dieses Land wurde unsere einzige Existenzgrundlage und bewahrte uns vor dem Verhungern.

Es wurde uns zehn Jahre später wieder weggenommen, weil meine Großeltern nicht in die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft eintreten wollten und mein Großvater sich weigerte, als Nachtwächter für die LPG zu arbeiten. Bauer wollte er sein und bleiben, aber als sein eigener Herr und nicht als Landarbeiter in einer „Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft“. Für private Einzelbauern aber war im beginnenden „sozialistischen Frühling auf dem Lande“ kein Platz mehr.

Vor Kummer über diesen zweiten Verlust ihres Landes erlitt meine Großmutter im Juni 1955, nur etwa acht Wochen nach dem Verlust ihrer Neubauernstelle, einen Schlaganfall, an dem sie starb. Mein Großvater kam den Rest seines Lebens nicht über den Verlust hinweg. Er erzog noch meine Schwester und mich, damals 12 und 14 Jahre alt, und verstarb 1966.

Ich selbst wurde etwa zehn Jahre lang ständig von den Genossen der „Horch-und-Guck-Kompanie“ beobachtet, weil ich mir nie das Maul verbieten ließ und keinen Hehl daraus machte, ein Ostpreuße zu sein, so wie es auch meine Großeltern waren.

Und, Ironie des Schicksals: Am 11. September 1969 machte unsere Meistergruppe einen „freiwilligen Subbotnik“ zu Ehren des 20. Jahrestages der DDR. Am Abend dieses Tages wurde ich in Weißenfels nach einem Gaststättenbesuch von einem Spitzel, der mit mir am Tisch saß und kräftig mitschimpfte, angezeigt und auf dem Bahnhof verhaftet.

„Sie, Herr Ax, werden im Gefängnis für uns den Sozialismus mit aufbauen!“ sagte der Staatsanwalt. Erst am 9. März 1972 war ich wieder ein freier Mann.

Bernhard Ax


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