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12.11.11 / Russland gehen die Russen aus / Gut ausgebildete Russen verlassen das Land und andere können sich nicht mehr als ein Kind leisten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-11 vom 12. November 2011

Russland gehen die Russen aus
Gut ausgebildete Russen verlassen das Land und andere können sich nicht mehr als ein Kind leisten

Was nicht passt, wird passend gemacht, das denkt man sich im Kreml offenbar auch bei der Familienpolitik. Doch weil man die Bevölkerung nicht zu mehr Kindern zwingen kann und zu einer Politik, die die Lust der Russen auf Kinder wieder steigert, nicht in der Lage ist, werden einfach die Statistiken gefälscht.

„Demografie ist die Messlatte für den Wohlstand einer Gesellschaft und die Effizienz eines Staates“, erklärte Ende September Premier Wladimir Putin vor dem 12. Kongress seiner Partei „Einiges Russland“. Seiner Politik erteilte er ein Sonderlob: „Wir stoppten die demografische Krise, die die Existenz Russlands bedrohte.“ Auf demselben Kongress wurde aber auch die Rochade verkündet, die Dmitrij Medwedjew und Putin im Präsidentenamt planen, und Experten sind überzeugt, dass dies für die demografische Entwicklung in Russland keineswegs positive Signale sind, denn Experten der Ökonomie-Hochschule nehmen an, dass „in den letzten sieben Jahren“ – also in der Putin-Ära – 1,4 bis 2,5 Millionen junge Russen abgewandert sind. Lew Gudkow, Chef des angesehenen „Levada-Zentrums“ für Demoskopie, glaubt allerdings, dass es weniger sind: „Seit langem verlassen jährlich 100000 Junge das Land, gut ausgebildete und aktive, nach der Rück-kehr Putins werden es 120000 sein.“ Doch egal wer genau Recht hat, in jedem Fall verlassen sehr viele gut ausgebildete, junge und fortpflanzungsfähige Russen das Land und mit ihnen ihre noch ungeborenen Kinder, die dann irgendwo im We-sten das Licht der Welt erblicken und dort der Gesellschaft und Wirtschaft dienen.

„Wir kriegen nicht mehr mit“, klagte Putin-Kritiker Michail Solomatin, „wie irreal soziopolitische Aussagen bei uns sind, die mehr Träumen als normalen Planungen gleichen.“ Die Angst geht um, dass mit Putin altsowjetische Verlogenheit in die russische Bevölkerungspolitik zurückkehrt. Bis 1939 arbeitete die Moskauer Statistikzentrale mit „regionalen Lügenkoeffizienten“, heute ist sie selber größter Lügner. In der Volkszählung 2010 wies sie 143 Millionen Einwohner Russlands aus, was selbst Sergej Sacharow, der führende russische Demograf, als Übertreibung um mindestens 3,5 Millionen ansah.

Die Politik betrachtet eine Bevölkerungszahl von mindestens 140 Millionen als „psychologische“ Marke, die möglichst nicht unterschritten werden sollte. Dabei ist sie es laut einem aktuellen Bericht längst: Hiernach ließ die „Depopularisierung“ Russlands seine Bevölkerung bis Jahresbeginn 2011 auf 138,7 Millionen sinken, um 0,5 Prozent jährlich (statt amtlich 0,03). Es gab nur elf (statt 12,5) Geburten pro 1000 Einwohner, die Sterblichkeit von Kindern und Jugendlichen ist siebenmal höher als in Westeuropa, die Lebenserwartung der 2011 Geborenen beträgt nicht 70, sondern bloß 66,3 Jahre, bei Männern gar nur 59,8.

Die entlarvende Datenkorrektur hat der US-Nachrichtendienst CIA vorgenommen, und sie wird von russischen Medien in einer Ausführlichkeit zitiert und kommentiert als Anklage gegen Putin und andere Urheber der demografischen Katastrophe. Die russische Bevölkerungsentwicklung gleicht einer Kerze, die an beiden Enden brennt: Soziale und Wohnungsnot, schlechte Gesundheitsfürsorge, Alkoholmissbrauch, Gewaltkriminalität, eskalierende Suizidraten verkürzen die Lebenszeit Erwachsener – fehlende Institutionen zur Betreuung von Mutter und Kind, Säuglings- und Müttersterblichkeit, 59 Abtreibungen pro 100 Geburten, endlose Schlangen selbst vor Moskauer Kindergärten drücken Geburtenraten in die Tiefe.

Putin, seine Gesundheitsministerin Tatjana Golikowa, Präsident Medwedjew, Nikolaj Patruschew, Chef des „Russischen Sicherheitsrates“, und andere haben seit 2006 in Serie „Programme“ zur Besserung der Lage aufgelegt, die alle Makulatur waren oder Heuchelei: Wenn Präsidentengattin Swetlana Medwedjewa und Ministerin Golikova im Oktober vor einem internationalen Forum einräumten, zwei Drittel aller Todesfälle bei Säuglingen beruhten auf Mängeln im eigenen System, die man bis 2015 beheben wolle, so ist das ein Offenbarungseid: Seit 1993 gibt es den „prikaz“ (Befehl) des Gesundheitsministeriums auch Frühgeburten (bis 22. Schwangerschaftswoche und 500 Gramm Gewicht) „zu betreuen“, in den kommenden Jahren will Russland nun endlich dazu „übergehen“. 

Olga Machowskaja, Psychologin und Autorin zu Kinder- und Erziehungsproblemen, sieht einen Gebär- und Heiratsstreik: Bei 700 Scheidungen pro 1000 Eheschließungen heiratet man lieber gar nicht oder spät (Frau 32,3, Mann 35 Jahre). Vom Einkommen von 21000 Rubel (knapp 500 Euro) pro Monat und Paar gehen 40 Prozent für Nahrung und 14 Prozent für kommunale Dienstleistungen drauf. Man „leistet“ sich höchstens ein Kind und hofft, dieses heil durch Versorgungsnöte, fehlende oder überlaufene Kindergärten, von Korruption infizierte Schulen und Drogenszene bringen zu können. „Koschjolki“ (Geldbeutel) nennt Machowskaja diese Egoisten, die sie nicht billigt, aber versteht.

In den ersten acht Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion ging der Geburtendurchschnitt pro Frau von 1,89 auf 1,16 zurück, erholte sich auf 1,54 dank Eltern aus dem „Baby-Boom“ der 1970er, 1980er Jahre. Dann sackte er erneut ab, mit langfristigen Folgen für die Bevölkerungs- und Arbeitsfähigenstatistik.          Wolf Oschlies


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