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12.11.11 / Gekommen, um den neuen Zar zu stürzen / Der Dekabristenaufstand scheiterte aus den unterschiedlichsten Gründen kläglich

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-11 vom 12. November 2011

Gekommen, um den neuen Zar zu stürzen
Der Dekabristenaufstand scheiterte aus den unterschiedlichsten Gründen kläglich

Rund 12000 Publikationen sind es schon, täglich kommen neue hinzu – über die mutigen Russen, die vor fast 186 Jahren den Aufstand gegen zaristischen Absolutismus probten. Es geschah am 14. (26.) Dezember 1825, von diesem Monat, russisch „dekabr“, stammt die Benennung der Putschisten als „Dekabristen“.

Der Petersburger „Senatsplatz“, der 1923 bis 2008 „Platz der Dekabristen“ hieß und weltbekannt ist ob des imposanten Reiterstandbilds für Peter den Großen, war Ort des Geschehens. Obwohl eigentlich gar nichts geschah, denn die 6000 Aufrührer entwickelten etwa so viel Aktivität wie die 7000 Terrakottasoldaten aus chinesischer Vorzeit, die man in Quin Shihuangdis ausgrub, stehend in Reih’ und Glied. Genau so standen 1825 die Russen, starr von 11 Uhr morgens bis 17 Uhr nachmittags, dann tötete des Zaren Artillerie viele von ihnen, der Rest floh und wurde später grausam bestraft. Nein, dieser „wosstanie“ (Aufstand) war eine Farce, allerdings eine mit interessanter Vor- und Nachgeschichte.

Eine slawistische Faustregel lautet: Die Alexander-Zaren sind progressiv, die Nikolajs reaktionär. Im November 1825 starb Alexander I., kinderlos, weswegen sein jüngerer Bruder Konstantin den Thron besteigen sollte. Aus Angst vor Attentaten wollte der nicht, womit die Thronfolge an den nächsten Bruder Nikolaj ging, der nach 25 Tagen Thronkrise am 14. Dezember gekrönt wurde.

Alexanders Ruhm war der des genialen Heerführers, dessen Mut und Umsicht den Sieg der europäischen Alliierten über Napoleon bedingt hatten. Nikolaj war „gekrönter Gendarm“. Aber beide waren keine Herrscher, wie sie das zurückgebliebene, von Aufständen geschüttelte sowie von Willkür der Reichen und Elend der Armen zerrissene Russland benötigte. Ausgerechnet Alexanders Liberalität öffnete den Russen die Augen, zum Beispiel 1804 das neue Statut der Moskauer Universität, durch das zahlreiche deutsche Gelehrte nach Russland kamen, wo sie in öffentlichen Vorlesungen westliches Gedankengut verbreiteten. Den Gedanken folgte das Erlebnis, denn im Gang der napoleonischen Kriege kamen Russen über Deutschland bis nach Paris. Wie wollte das große Russland, von dessen Einwohnern knapp 50 Prozent leibeigene Bauern waren, mit dieser Freiheit und Entwicklung konkurrieren?

So fragten russische Intellektuelle und suchten Antworten bei deutschen Philosophen, französischen Aufklärern, englischen Ökonomen. Nach Kriegsende 1812 entstanden allenthalben „Artels“, Geheimgesellschaften von Adligen und Offizieren, in denen politische Reformpläne debattiert wurden. Die wichtigsten waren das „heilige Artel“ der Generalstabsoffiziere, unter ihnen Schulfreunde des Nationaldichters Alexander Sergejewitsch Puschkin, und das Artel im Semjonow-Regiment, Urzelle der „Dekabristen“.

1816 vereinten sich beide „Artels“ zur „Rettungsunion“, die 1818 reorganisiert, in „Wohlfahrtsunion“ umbenannt und in vier „Zweige“ – Soziales, Bildung, Justiz, Ökonomie – aufgeteilt wurde, um gezielter für Reformen werben und nach etwa einem Jahrzehnt eine „friedliche und schmerzlose Revolution“ starten zu können. Daraus wurde nichts.

Der Westen wurde progressiver, russische Willkür gegen Bauern immer brutaler, die Vorstellung, Jahrzehnte auf friedliche Veränderungen warten zu können, zeigte sich als Illusion. Revolution gleich oder gar nicht lautete die Forderung. Darüber kam es zur Spaltung der Reformer in die radikalere „südliche Gesellschaft“, die schon eine republikanische Verfassung entwarf, und die „nördliche Gesellschaft“, die auf eine konstitutionelle Monarchie setzte.

Verräter in beiden Gesellschaften sorgten dafür, dass der Staatsapparat bestens informiert war. Die Thronkrise von Ende 1825 war die letzte Chance, mit einem kühnen Vorstoß Autokratie und Leibeigenschaft zu beseitigen und mehr Freiheit in einer konstitutionellen Monarchie zu erringen. Manifeste wurden eilig verfasst, sechs Garderegimenter mobilisiert, im „Winterpalais“ ein Arrest für die Zarenfamlie eingerichtet.

Und dann kamen sie zu spät: Um 11 Uhr bildeten die Truppen ein Karree um das Peterdenkmal, während der neue Zar Nikolaus I. den Senat vor Stunden auf sich vereidigt hatte. Die Soldaten wussten nicht, worum es ging, sie riefen „Hurra Konstitution“ und glaubten, sie brächten Hochrufe auf die Frau des beliebten Konstantin aus – die Menschen auf dem Senatsplatz schauten wie auf eine Parade, und als der alte General Michail Andrejewitsch Miloradowitsch, Held von 1812, die Aufrührer besänftigen wollte, wurde er von dem Dekabristen Pjotr Grigorjewitsch Kachowskij erschossen. Auf beiden Seiten lagen die Nerven blank.

Gegen 14 Uhr ließ der Zar berittene Garde angreifen, die von den Dekabristen vertrieben wurde. Artillerie wagte man nicht einzusetzen, um nicht die 30000 zivilen Zuschauer auf dem Platz zu treffen. Als Nikolaus I. um 17 Uhr dennoch feuern lassen wollte, weigerten sich die Kanoniere: „Das sind doch Ihre Soldaten, Majestät“. Offiziere griffen zu den Lunten, Salven knallten, bis zu 200 Dekabristen fielen. Am späten Abend kamen die Führer nochmals zusammen – um zu beraten, was sie bei kommenden Verhören sagen wollten. Im Süden begannen die Kämpfe am 29. Dezember, dauerten bis zum 3. Januar 1826, waren aber wegen der vielen Verräter in den eigenen Reihen völlig harmlos. Die Ängste von Nikolaus’ Ehefrau Alexandra, 1798 als Prinzessin Charlotte von Preußen geboren, die sie um Thron und Familie hegte, waren von Anfang an gegenstandslos.

In Petersburg tobte die Rache. 500 Offiziere und über 2500 Soldaten wurden verhaftet, letztere durch „spicruty“ (Spießruten) gejagt, dann in „Strafkompanien“ geschickt, während die Offiziere dem von Nikolaus ernannten 72-köpfigen „hohen Strafsenat“ überantwortet wurden. Verurteilt wurden 121, 61 der „nördlichen“ und 60 der „südlichen Gesellschaft“. Das waren nur 0,6 Prozent aller Offiziere der russischen Armee, aber sie waren eine Elite. Acht Fürsten gehörten ebenso dazu wie drei Grafen, drei Barone, drei Generäle, 23 Obristen und ein Oberstaatsanwalt. 31 wurden zum Tode verurteilt, teils mit Tötungsarten von archaischer Grausamkeit wie Vierteilen, andere zu lebenslanger Verbannung oder Degradierung zu einfachen Soldaten. Erst 1856 hat Zar Alexander II. bei seiner Krönung die Dekabristen amnestiert.

Ursprünglich waren 100 verbannt worden, 40 überlebten, zwölf waren von ihren Ehefrauen nach Sibirien begleitet worden. Nach 30 Jahren kehrten sie zurück, 20 dort geborene und verstorbene Kinder zurücklassend. Die „De-

kabristinnen“ blieben ein Mythos, in vielen Poemen verewigt. Hatten die Dekabristen eine Chance? Natürlich nicht, sie waren zu wenige, zu passiv, zu zerstritten, sie hatten die Russen nicht auf ihrer Seite.  Wolf Oschlies


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