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10.12.11 / Die Nachtseite des Sozialismus kannte sie nicht / »Eine mütterliche Träumerin«: Zum Tode der deutschen Schriftstellerin Christa Wolf

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-11 vom 10. Dezember 2011

Die Nachtseite des Sozialismus kannte sie nicht
»Eine mütterliche Träumerin«: Zum Tode der deutschen Schriftstellerin Christa Wolf

Christa Wolf verteidigte die DDR als das moralisch bessere Deutschland. Noch im Dezember 1989, nach dem Mauerfall, unterzeichnete sie den Aufruf „Für unser Land“, der für eine Reform der DDR im Sinne eines menschlichen Sozialismus warb. Vielleicht ohne es selbst zu wissen, stand Christa Wolfs Schreiben in der Tradition des deutschen Idealismus.

In ihrem Essay „Blickwechsel“ (1970) hatte die Schriftstellerin ein einschneidendes Erlebnis ihrer Jugend angedeutet: „Es war jener kalte Januarmorgen, als ich in aller Hast auf einem Lastwagen meine Stadt in Richtung Küstrin verließ und als ich mich sehr wundern musste, wie grau diese Stadt doch war, in der ich immer alles Licht und alle Farben gefunden hatte, die ich brauchte. Da sagte jemand in mir langsam und deutlich: Das siehst du niemals wieder.“ Ein aufmerksamer Beobachter der literarischen Produktion Christa Wolfs konnte ahnen, dass sie sich früher oder später des gewaltigen Stoffes von Flucht und Vertreibung annehmen würde.

Die am 18. März 1929 in Landsberg an der Warthe in Ostbrandenburg geborene Wolf geriet als Flüchtlingsmädchen mit ihren Eltern zunächst nach Mecklenburg. Sie war begeisterte Jungkommunistin, wurde 1949 SED-Mitglied und blieb es trotz aller Kritik an Staat und Gesellschaft bis Juni 1989. In Jena und Leipzig studierte sie Germanistik. 1951 heiratete sie ihren Studienfreund Gerhard Wolf, ihre beiden Töchter Annette und Katrin wurden 1952 und 1956 geboren. Nach dem Staatsexamen arbeitete sie als Verlagslektorin in Halle und als Redakteurin der Zeitschrift „Neue Deutsche Literatur“, lebte bis 1976 in Kleinmachnow in der märkischen Provinz und seitdem in Ost-Berlin.

Nach der Veröffentlichung der „Moskauer Novelle“ (1961), die heute vergessen ist, wurde sie mit „Der geteilte Himmel“ (1963) über Nacht berühmt. Es ist die Geschichte der gescheiterten Liebesbeziehung zwischen dem Chemiker Manfred Herrfurth (29), der die Ineffizienz sozialistischer Planwirtschaft erkennt und vor dem 13. August 1961 nach West-Berlin geht, und der Lehrerstudentin Rita Seidel (19), die ein Praktikum im Waggonwerk Halle-Ammendorf ableistet und in kindlicher Unschuld an den Sozialismus glaubt. Die Entscheidung gegen ihren Verlobten und für den Sozialismus überfordert ihre Kräfte. Während der Arbeit bricht sie zusammen und kommt für Wochen ins Krankenhaus: „Wer in der Welt hatte das Recht, einen Menschen … vor solche Wahl zu stellen, die, wie immer er sich entschied, ein Stück von ihm forderte?“ Das Buch, das 1964 verfilmt wurde, löste eine heftige Diskussion aus, die kaum einzudämmen war. Die wichtigsten Stimmen sammelte Martin Reso in seinem Buch „‚Der geteilte Himmel‘ und seine Kritiker“ (1965). Schließlich beendete Horst Sindermann, SED-Bezirkssekretär von Halle, die Diskussion mit einem Machtwort: „Wenn auf einem Drittel Deutschlands die Arbeiterklasse gesiegt hat, ist das ein Glück.“

Sechs Jahre später kam es erneut zu Kontroversen mit der Partei über den Roman „Nachdenken über Christa T.“, der die Jahreszahl 1968 trug, aber erst 1969 ausgeliefert wurde und nur in einer Nominalauflage von 5000 Exemplaren. Es ging um den Tod einer jungen Lehrerin, die am Sozialismus zerbricht. Die Apologeten des „realen Sozialismus“ wie Max Walter Schulz warfen ihr daraufhin vor, mit ihrem Buch die „Arbeiterklasse“ verraten zu haben. Aber durch ihre auch in Westdeutschland erschienenen Romane, Erzählungen und Essaybände wurde ihre Position immer unangreifbarer, nachdem sie auch den „Bremer Literaturpreis“ (1978) und den „Georg-Büchner-Preis“ (1980) erhalten hatte. In ihrer Erzählung „Kassandra“ (1983) kritisierte sie schließlich auch die sowjetische Kriegsindustrie, eine Passage, die in der DDR-Ausgabe des Buches gestrichen wurde. In ihrem Textstück „Was bleibt“, 1979 entstanden, aber erst 1990 veröffentlicht, womit sie einen heftigen Streit über DDR-Literatur auslöste, berichtet sie vom unerwarteten Besuch einer jungen Kollegin, die, 1977 frisch entlassen aus dem Frauenzuchthaus Hoheneck im Erzgebirge, nach Ost-Berlin gefahren war und bei ihr an der Haustür geklingelt hatte. Sie nennt keinen Namen, es war die Lyrikerin Gabriele Kachold (1953), die wegen „Staatsverleumdung“ verurteilt war. Diese Welt da ganz unten, die Nachtseite des Sozialismus, kannte sie nicht und wollte sie nicht kennen. Der DDR-Lyriker Durs Grünbein (1962) begegnete ihr nach dem Mauerfall im Dezember 1989: „Sie konnte nicht fassen, was ich als Augenzeuge berichtete und am eigenen Leib erfahren hatte … Hier saß einer der für den Kommunismus ewig verlorenen Söhne einer mütterlichen Träumerin gegenüber, und beide hatten wohl füreinander Mitleid.“

Christa Wolf hat das erlebt, was vier Millionen spätere DDR-Bürger auch erlebt haben: Flucht, Vertreibung, Heimatverlust. Eine Handvoll DDR-Schriftsteller, unter ihnen Werner Heiduczek aus Oberschlesien, Elisabeth Schulz-Semrau aus Ostpreußen, Ursula Höntsch-Harendt und Armin Müller aus Niederschlesien, haben versucht, diesen „ungeheuren Verlust“ (Max Frisch) literarisch zu bewältigen. Auch Wolfs Roman „Kindheitsmuster“ (1976) über ihre frühen Jahre in der Neumark und nach der Flucht in Mecklenburg, hat heftige Kritik erfahren müssen, obwohl sie sich bemüht hatte, die von der Roten Armee in den deutschen Ostgebieten angerichteten Vertreibungsverbrechen nicht in aller Grausamkeit zu beschreiben, sondern lediglich anzudeuten. Dass sie nicht offen darüber schreiben konnte, teilt sie ihren Lesern in diesem Buch auch unumwunden mit. So berichtet sie vom Besuch in einem Moskauer Krankenhaus, wo sie einen sowjetrussischen Geschichtsprofessor trifft, der im Sterben liegt und der sie tröstet: „Du würdest die Zeit erleben, da man offen und frei über alles werde reden und schreiben können.“

Das Romangeschehen verläuft auf drei Zeitebenen, deren unterste die Kindheit und Jugend der Nelly Jordan von 1932 bis 1947 in Landsberg und auf dem Land bei Schwerin ist. Die zweite Ebene ist eine Reise, die sie mit Ehemann, Bruder und Tochter 1971 in den Geburtsort Landsberg unternimmt, der polnisch Gorzów Wielkopolski heißt. Diese Erkundungsreise in die Vergangenheit soll der „Gedächtnisüberprüfung“ dienen. Die dritte Ebene schließlich, die Reflexionsebene, umfasst den von Selbstzweifeln überlagerten Vorgang der Niederschrift vom 3. November 1972 bis 2. Mai 1975. Die Vergewaltigungen aber während des Kriegsendes, die sie nicht ausklammern möchte, werden in ihrem Roman von desertierten Sowjetsoldaten begangen, nicht von der kämpfenden Truppe. Dass diese Deserteure aber, als sie deutsche Frauen vergewaltigten, Angehörige der Roten Armee waren, diese Schlussfolgerung überlässt sie dem Leser. Am Donnerstag Morgen vergangener Woche ist Christa Wolf im Alter von 82 Jahren in Berlin gestorben. Jörg Bernhard Bilke


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