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17.12.11 / Mit der Schere auf Ton schneiden / Orgelbauer im Dom zu Bardowick: Millimeterarbeit und gespitzte Ohren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-11 vom 17. Dezember 2011

Mit der Schere auf Ton schneiden
Orgelbauer im Dom zu Bardowick: Millimeterarbeit und gespitzte Ohren

In einer Welt rasanten Wandels ist das Berufsbild des Orgelbauers seit Jahrhunderten praktisch unverändert. Die PAZ hat Fachleuten bei der Arbeit über die Schulter geschaut und einen Blick hinter den Orgelprospekt geworfen.

Der Klang ist warm und vertraut. „O komm, o komm, Emmanuel, nach dir sehnt sich dein Israel!“ Kräftig füllen die Töne das halbdunkle Kirchenschiff. Probeweise spielt Orgelbauer Rolf Pietrusky eine Melodie. Es ist bereits spät am Abend, doch im Dom zu Bardowick brennt noch Licht. Die dreischiffige gotische Hallenkirche in dem Ort zwischen Hamburg und Lüneburg erhält eine neue Orgel. Auf der erleuchteten Empore von St. Peter und Paul sind zwei Orgelbauer ruhig und konzentriert bei der Sache. Die Fachleute des weithin bekannten Potsdamer Orgelbaubetriebs Alexander Schuke geben dem Instrument den letzten Schliff.

Die Hauptarbeit ist schon getan: Das Instrument mit 45 Registern, drei Manualwerken und Pedal ist in der Werkstatt erdacht, geplant und bis ins Detail konstruiert worden. Tausende von Einzelteilen, teils lose, teils vormontiert, wurden ab dem Spätsommer in den historischen Furtwängler-Prospekt von 1867 eingebaut. Äußerlich wirkt die Bardowicker Orgel komplett. Nach dem technischen Aufbau folgt der musikalische Teil. Nicht jeder Orgelbauer muss in jedem Arbeitsbereich Spezialist sein: Jetzt schlägt die Stunde der Mitarbeiter mit dem ganz feinen Gehör.

„In Sünd’ und Elend weinen wir und flehn und flehn hinauf zu dir.“ Rolf Pietrus­ky setzt sich an den Spieltisch und lässt die Finger über die Tasten gleiten. Eine Elektro-Heizung verhindert, dass sie klamm werden. „Ein absolutes Gehör ist nicht notwendig, es genügt ein relatives“, sagt der Mittdreißiger. „Musikalität ist für den Beruf natürlich Voraussetzung.“ Er und sein Kollege Hartmut Beyer kümmern sich um die Intonation der rund 2500 Pfeifen. Klangcharakter und Lautstärke der einzelnen Pfeifen und Register müssen gestimmt und ausgeglichen und zu einem harmonischen Ganzen gefügt werden. Insgesamt 45 Pfeifenreihen, die in Variation mit 54 Tasten und 30 Pedalen gespielt werden, werden gestimmt – ganz ohne elektronisches Stimmgerät. „Das geht alles nach Gehör“, sagt Intonateur Beyer. 45 Register – ein großer Auftrag. 665000 Euro kostet die Orgel. Das Geld kommt von der Klosterkammer Hannover.

Aus dem Inneren, zwischen den Orgelpfeifen hindurch, dringt das Baulicht. An der Seite eine Tür. Der Raum hinter dem Orgelprospekt ist hell ausgestrahlt. Eine warme Atmosphäre empfängt den Neugierigen, das Kiefernholz duftet und schafft unwillkürlich Gemütlichkeit. Über Treppchen geht es über drei Ebenen in die Höhe, der Blick nach oben ist verstellt durch Balken, Böden, Pfeifen und Streben, Züge, Trakturen – die Registermechanik. Man steht im Herz der Orgel. Hier entsteht der schöne, volle, jubilierende Klang, der die Gottesdienste erst feierlich macht. Das Auge sucht Halt, muss sich zurechtfinden. Auf denjenigen Windladen, die noch nicht mit Pfeifen bestückt sind, liegen Arbeitsdecken, zum Schutz vor Staub. Darauf die Werkzeuge der Intonateure: Feilen, Hohlbeitel, Metallscheren, Messerchen, Hämmer, Stimmhörner.

Ganz an der Westwand der gotischen Kirche stehen die hölzernen Pfeifen, Stämmen eines Waldes gleich, dicht an dicht aufgereiht. Sie sind viereckig, deren größte überragt alle anderen und kratzt beinahe am Gewölbe. Pietrusky ruft seinem Kollegen draußen zu: „Kannst du mal den Principalbass anspielen?“ Der tiefste Ton der Orgel dröhnt dunkel, seine Schallwellen von 30 Hertz bewegen nicht nur das Trommelfell, sondern sind auch deutlich in der Magengegend spürbar.

„Die Orgel ist ein Neubau, nach historischem Vorbild“, erklärt Pietrusky. „An thüringische Barockorgeln angelehnt, eignet sie sich besonders für Bach.“ Seit Jahrhunderten sei der Orgelbau im Prinzip unverändert. Einzig der Elektromotor erleichterte den Betrieb der Königin der Instrumente. Pietrusky zeigt das Windwerk hinter der Mauer: Die Balganlage aus dem 19. Jahrhundert ist erhalten, die historischen Kastenbälge heben und senken sich gemächlich. Früher war das Orgelspiel eine „personalintensive“ Angelegenheit: Je nach Größe des Instruments mussten bis zu einem Dutzend Balgtreter – Bauern- oder Handwerksburschen, Schuljungen – die Luft für die Pfeifen erzeugen, indem sie mit Füßen oder Händen die Blasebälge betätigten. Mal eben schnell zum Üben in die Kirche – so einfach war das nicht. Seit Einführung elektrisch betriebener Gebläse ist solch schweißtreibendes Tun nicht mehr nötig.

Vorbei an den Pfeifen aus Metall erklimmt Pietrusky die Stiegen bis auf die oberste Ebene. Man steht direkt unter dem gotischen Gewölbe, kann über den Orgelprospekt hinweg bis ans entgegengesetzte Ende des Domes sehen und den geschnitzten Flügelaltar von 1430 im Halbdunkel erahnen. „Hier ist die Spielzeugabteilung“, lächelt er verschmitzt und deutet auf eine Holzkonstruktion, das mechanische Spielwerk. Zwei Holzpfeifen, zwei Miniaturblasebälge, ein Luftrohr und eine Art Windrad sowie zwei blinkende, klitzekleine umgedrehte Pfeifchen, die in einem wassergefüllten Schälchen enden. Ein Kollege aus dem Betrieb hat sich für das Oberwerk etwas Spezielles ausgedacht, um die Orgel auch für besondere klangliche Aufgaben zu rüsten und ihr das Barocktypische, Spielerische zu geben. „Das hier ist der Zimbelstern, da der Kuckuck und hier das Vogelgeschrei.“ Kollege Beyer unten am Spieltisch hat mitgehört und zieht den zugehörigen Registerzug. Wind fährt durch die Pfeifchen, erzeugt ein Tirilieren und helles Wasserplätschern. „Wenn dann in der Pfingstzeit ,Geh aus mein Herz‘ gespielt wird, kann man den Vogel dazu machen“, lacht Pietrusky mit sichtlicher Freude.

„O komm, o komm, Emmanuel, befrei dein armes Israel!“ Pietrus­ky hat sich an die Tasten gesetzt, Beyer ist ins Orgelgehäuse gestiegen. Die beiden Intonateure arbeiten seit vielen Jahren zusammen und sind ein eingespieltes Team. Gemeinsam haben sie 2007 die neue große Orgel im Königsberger Dom gestimmt. Heute wird im Bardowicker Dom das Waldflöten-Register fertig intoniert. An die zwölf Wochen dauert der Prozess der Feinabstimmung. „Bergfest“ konnten sie schon feiern.

Beyer hat sich dünne weiße Stoffhandschuhe übergestreift, denn der Handschweiß wirkt leicht ätzend auf das Metall. Er streckt den linken Arm und reicht mit den Fingern an das offene Ende einer Pfeife. Kollege Pietrus­ky spielt im selben Moment draußen dieselbe Pfeife an. Beyer hält im Abstand von einem Zentimeter zwei Finger über die Öffnung, lauscht auf den Ton und variiert den Abstand. Sodann greift er mit der Linken nach der Pfeife und mit der Rechten nach einer Spezialschere. Mit schlafwandlerischer Sicherheit schneidet er ringsum vielleicht zwei Millimeter des Metalls ab. Die sich formende Spirale fällt in eine Schachtel. „Durch Wärme verändert sich der Ton. Bereits die Berührung der Pfeife genügt. Das muss man berücksichtigen“, erklärt Beyer. „Weiter“ hat er dem Kollegen zugerufen. Pietrusky spielt die nächste Pfeife an, wieder prüft und lauscht der Intonateur. „Wir Orgelbauer sagen ,auf Ton schneiden‘ dazu“, erläutert er. „Weiter!“

„Die Sünde schloss die Himmelstür, du öffnest sie, wir jubeln dir!“ Pietrusky verrät, es sei mit sein Lieblings-Adventslied. Auf der hölzernen Balustrade der Orgelempore zeugen Termoskanne, Orangenschalen, Joghurtbecher und Brötchentüten von einem temporären Zuhausesein. „,Auf Montage‘, wie wir sagen.“ Als Orgelbauer ist man viel unterwegs und oft wochenlang von zu Hause weg. Die Arbeitszeiten reichen von früh morgens bis in den späten Abend. In einer Pension am Ort sind die beiden Kollegen untergekommen. Christliche Kirchen gibt es auf allen Kontinenten, und der Ruf der Schuke-Orgeln hat sich weltweit verbreitet. Pietrusky war dienstlich bereits in vielen europäischen Ländern, allein in diesem Jahr für Aufträge in Russland und in Georgien; sogar im fernen Mexiko hat er eine Orgel mitgebaut. Seine Frau und seine Kinder vermissen ihn oft – und er sie. Doch er winkt ab: „Bardowick ist ja günstig gelegen, Freitag nachmittags geht’s wieder nach Potsdam.“

„Freue dich, freue dich, o Israel, bald kommt, bald kommt Emmanuel!“ Über Weihnachten werden die Kollegen Pietrusky und Beyer Schere und Stimmhorn ruhen lassen und bei ihren Familien sein. Christian Rudolf


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