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24.12.11 / »Es zerbrach das blutige Reich« / Vor 20 Jahren endete die einstige rote Supermacht Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-11 vom 24. Dezember 2011

»Es zerbrach das blutige Reich«
Vor 20 Jahren endete die einstige rote Supermacht Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

Vor genau zwei Jahrzehnten endete die Sowjetunion. Gut eineinhalb Jahrzehnte später, im April 2005, klassifizierte dies Russlands damaliger Staats- und heutiger Regierungschef Wladimir Putin als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ und „gesamtnationale Tragödie“. Vor einem halben Jahrzehnt, Ende 2006, bezeugten Umfragen, dass 45 Prozent der Russen Putins Ansicht teilten und 53 Prozent Stalin verherrlichten.

Solche Voten disqualifizieren Russen vor dem Rest der Welt. Dabei stehen sie nur für ein Phänomen, das der junge Wirtschaftshistoriker Andrej Markowitsch „Archiv-Revolution“ nennt. In der Sowjetunion gab es keine einzige Familie, die nicht direkt unter Stalins Terror gelitten hätte – erst in postsowjetischer Zeit könne man Archive öffnen und verifizieren, was westliche Forscher schon 1970 behaupteten, dass der Stalinismus mindestens 100 Millionen Todesopfer gefordert habe.

Die UdSSR war Stalins Schöpfung, Russland ist ihr rechtlicher und konzeptioneller Nachfolger, denn Putins „Autoritarismus“ ist mit allen Repressionen und Kultformen eine zeitgemäß gemilderte Ausgabe des Stalinismus. So er klärt es der Historiker Boris Chawkin: Die Menschen meinten, unter Stalin hätten Ordnung und Einigkeit geherrscht, unter Putin werde es wieder so sein. 2011 hätten selbst Schulbücher die neue Sichtweise ausgegeben: Vielleicht sei der Stalinismus ein „totalitäres Regime“ gewesen, aber er habe doch „Errungenschaften“ gezeitigt und den „Heroismus der Menschen in Arbeit und Krieg“ gefördert.

„Russland war zweimal eine Großmacht, unter Peter dem Großen und unter Stalin“, sagen Russen heute und finden es legitim, wenn Putin ihr Land erneut zur Großmacht ausformen will. Dass das ein Rückfall in die Konfrontation des Kalten Kriegs bedeuten kann, interessiert sie nicht, und den Hauptmangel dieses Konzepts hat wohl nur Fjodor Lukjanow, Russlands geistvollster Publizist, gespürt: Putins Großmacht wäre nicht demokratisch, nicht europäisch, nicht friedlich, nicht bereit für jede Form von Integration, da nur auf „Führung“ und „Zentrum“ orientiert. Was zu beweisen war an Russlands Kaukasus-Kriegen, seinen Embargos gegen Litauen und Moldawien, seinen aussichtslosen „Zollunionen“ und „eurasischen“ Bünden, seinen Sezessionsgebieten in Georgien und anderem mehr.

Lukjanow hat auf ein Kuriosum sui generis verwiesen: Mit dem Ende der Sowjetunion eignete Russland sich alle Mythen an, die zwar Propagandalügen waren – „Sieg über Hitler“, „Industrialisierung“, „wissenschaftlich-technische Revolution“ –, aber bis 1991 den „Völkern der Sowjet­union“ gutgeschrieben waren. Im postsowjetischen Raum erinnert man sich eher an Schattenseiten russischer „Führung“: politischer Terror, Hungersnöte 1932 und 1946, kriegsfördernde Kumpanei mit Adolf Hitler, Ermordung von Tausenden polnischen Offizieren in Katyn und zahllose Untaten mehr, vor allem in der sowjetischen Landwirtschaft, deren Folgen bis zur Gegenwart spürbar sind: Ackerfläche und Erträge halbiert, stets fragile Versorgungslage, Arbeitskräftemangel, Landflucht. Von 155000 russischen Dörfern waren 2002 die Hälfte nahezu entvölkert und 13086 menschenleere „derevni-prisraki“ (Geisterdörfer). Stalin hatte die Bauern in die neue Leibeigenschaft der Kolchosen getrieben, was auch Agrarexperte Michail Gorbatschow nicht revidierte. Das vorsowjetische Russland war eine Kornkammer, das postsowjetische ist eine aufgeschobene Pleite, da es für Fleisch­importe aus dem Westen so viel ausgibt, wie ihm der Gasverkauf an diesen einbringt.

Hinzu kamen die militärische Misere und die strategische. 1979 begann der zehnjährige verlustreiche Krieg in Afghanistan. Zwei Jahre später startete der aussichtslose Rüstungswettlauf mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Im März 1983 wurde Gorbatschow Parteichef und hatte die ehrliche Absicht, den sowjetischen Augiasstall völlig auszumisten. Das ging schief. „Glasnost“ nutzten vor allem Sy­­stemkritiker, „Perestroika“ half denen, die von Moskau fortstrebten. Es begann 1987 mit Estland. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 endete die Be­sat­zungs­herrschaft der Sowjets in Mit­tel­ost­eu­ro­pa/Ost­mit­tel­eu­ro­pa. Später folgten ein Putsch und ein Attentatsversuch auf Gorbatschow und was der UdSSR sonst noch schaden konnte.

Laut Artikel 72 der Sowjetverfassung hat jede Unionsrepublik das „unveräußerliche Recht auf freies Ausscheiden aus der UdSSR“. Als jedoch die Ukraine, das Baltikum, Georgien und andere davon Gebrauch machten, spürte Russland „Phantomschmerzen über den Verlust des Imperiums“ (Chawkin), hielt sich aber für sakrosankt: „Wenn sie souverän sein wollen, bitte, aber wer wenn nicht Russland wird sie ernähren“, protzte hochmütig Boris Jelzin. Dabei lag Russland ökonomisch so darnieder, dass Demonstranten Gorbatschow mit dem rumänischen Pleitier Nicolae Ceausescu verglichen. Die abtrünnigen Länder erkärten, „sowjetische Gesetze gelten für uns nicht“, und schlossen untereinander Verträge. Im November überlegte die Moskauer Führung, ob die UdSSR zu retten wäre, wenn man sie in „Union der Souveränen Sowjetrepubliken“ umtaufte. Zwecklose Idee, selbst wenn Moskau Anfang 1991 nicht im Baltikum seine Killer- und Knüppelgarden von der Leine gelassen hätte. Der Rest des Jahres verging mit immer neuen Verträgen, Kongressen und Referenden, die alle nichts als „heiße Luft“ waren. Die Sowjetunion war so tot wie Lenin im Mausoleum am Moskauer Roten Platz, es ging nur um die „zivilisierte Scheidung“, wie Putin es formulierte. Es entstand zum Jahresende die „Gemeinschaft unabhängiger Staaten“ (GUS), an der die Balten nie teilnahmen, andere wieder austraten, wieder andere nur blieben, um Russland zu schröpfen, das (nach Kirgisien) das zweitschlechteste Wirt­schafts­niveau aufwies.

Was bleibt? Recht hatte der letzte Sowjetaußenminister Eduard Schewardnadse: „Es zerbrach die Sowjetunion, das blutige, gegen den Willen Gottes und die Gesetze der Natur entstandene Reich.“

Wolf Oschlies

Und so einer stammt aus Ostpreußen? Oleg Gasmanow, geboren 1951 in Gumbinnen [Gusew], ist seit Jahren Russlands Superstar mit einem Lied, das in eingängiger Melodie den Inventarkatalog zeitgenössischer russischer Identität aufzählt: „Romanows und Lenin-Stalin/ Puschkin und Gagarin/ KGB und Oper/ Wodka und Erdöl/ Ich wurde in der Sowjetunion geboren/ ein Produkt der UdSSR“.


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