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24.12.11 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-11 vom 24. Dezember 2011

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,
liebe Familienfreunde,

„Es tönt herüber – weit her, weit her – aus der endlosen Zeit eine Wundermär ...“ Immer wieder fällt mir zur Weihnachtszeit dieses alte Gedicht ein, wenn die Briefe mit den Erinnerungen an die Weihnachtszeit im Elternhaus kommen, das irgendwo in der verschneiten Weite der ostdeutschen Landschaft lag. Sie erscheint für die Älteren, die das Weihnachtsfest lange vor Krieg und Flucht in friedlicher Stille erlebten, unendlich fern und ist dann plötzlich doch so nah, wenn irgendetwas die Erinnerung wachruft. Das kann der Duft von heimatlichem Gebäck sein, ein Lied, ein Bild, eine Kerze, ein Weihnachtsgruß … Und da bekommt ein Wort aus der Anfangszeile dieses Gedichts seine Bedeutung: endlos! Die Erinnerung richtet sich nicht nach Kalenderjahren, sie löscht Zeiten und Grenzen, und bringt uns das vergessen Geglaubte wieder, wo und wie wir auch heute leben.

So wie für Marlies Stern, die im italienischen La Spezia wohnt. Sie schreibt, dass ihr der schöne Schnee auf den weiten Feldern fehlt. Und erinnert sich: „Wenn wir von Königsberg im Zug nach Godrienen zurückkehrten, drückte ich meine Nase ganz dicht an die eisigen Fensterscheiben des Abteils, um im tiefen Schnee draußen nach Spuren von Hasen und Krähen zu suchen. Das Vieh war längst im warmen Stall, und zu Hause würde Mutti zuerst den Ofen in der Küche einheizen, das Splitterholz knisterte und warf winzige Funken auf. Mir fehlt meine Mutter, ihre heimlichen Vorbereitungen für die Festtage. In der warmen Küche saßen wir bis zum Dunkelwerden und bastelten aus Stroh schöne Sterne und lange Ketten für den Weih­nachtsbaum, den Papa mitbringen würde. Am Heiligen Abend gab es Kartoffelsalat mit warmen Würstchen. Küche und Wohnzimmer sollten gleich wieder ordentlich für den Weihnachtsmann sein. Der würde doch kommen – oder? Und schon bummerte es an die Haustüre. Von großen Schneeflocken begleitet trat er in das Haus. Bei unserer Begeisterung über die Geschenke aus dem großen Sack übersahen wir, dass Papa gar nicht unter uns war. Als Papa später nach Hause kam und schnell gegessen hatte, saßen wir zusammen im Wohnzimmer, sangen Weihnachtslieder, und ich sagte mein Gedicht vor dem Weihnachtsbaum mit seinen flackernden weißen Kerzen auf – ohne zu stottern! Alles war so heimelig und geheimnisvoll.“

In diesen Erinnerungen von Marlies Stern werden sich viele ältere Landsleute wiederfinden, sich selber als das Kind unter dem Weihnachtsbaum sehen. Sie werden sich an das Weihnachtsgedicht erinnern, das man in Schönschrift auf den Weih­nachtsbogen mit dem bunten Stammbild geschrieben hatte, den man dann den Eltern überreichte. Nachdem man es mit gefalteten Händen und mit „viel Betonung“ aufgesagt hatte. Wehe wenn man ins Stocken kam – das war schlimmer als wenn man in der Schule versagte. Dabei hätten die Eltern nur milde gelächelt und Mutter hätte ihr Kind tröstend in den Arm genommen. Nein, es war viel mehr das Gefühl, dass man die feierliche Stimmung mit dieser Stotterei zerstört hatte, die – wie Marlies Stern sie beschreibt – so heimelig und geheimnisvoll war.

Auch das Basteln mit Stroh weckt Erinnerungen. Da erzählt die Ermländerin Hildegard Michalski von einem wunderschönen Brauch, der die Innigkeit des Christfestes auf eine ganz besondere Weise zum Ausdruck bringt. „Unser Vater hatte lange vor Weihnachten eine Krippe gebastelt. Sie war sicher nicht sehr groß, aber meiner Schwester und mir erschien sie riesig, wie sie da auf dem kleinen Schrank stand. Am ersten Adventssonntag legte meine Mutter in die leere Krippe ein aus Holz geschnitztes Jesuskind. Vater hatte dazu ein Bündel Stroh geschnitten, das im Küchenschrank aufbewahrt wurde, unerreichbar für uns Kinder. Und dann begann das wunderbare Adventsspiel. Immer, wenn wir Kinder besonders artig waren, zog Mutter einen Halm aus dem Strohbündel. Wir durften ihn vorsichtig in die Krippe legen. Auch wenn wir pünktlich vom Schlittschuhlaufen kamen – und wir waren pünktlich! – bekamen wir einen Strohhalm, ebenso für das Abtrocknen des Geschirrs und andere ,gute Taten‘. Die wurden sehr großzügig beurteilt, so gehörte zum Beispiel das Ausstechen der Weihnachtsplätzchen dazu, das uns viel Freude machte. Sogar das Eingestehen einer kleinen Lüge wurde ,belohnt‘! Zwischendurch sagte Vater manchmal: ,Dies war ein ganz besonders guter Tag, wir wollen jeder einen Halm in die Krippe legen.‘ Und wenn die Großmutter, die immer ein besticktes Ermländerhäubchen trug, uns besuchte und froh war, an diesem Tag kein Zipperlein zu haben, dankte sie Gott und legte einen Halm hinein. So wuchs das Krippenstroh, und das Weihnachtsfest rückte immer näher. Wie glücklich waren wir am Heiligen Abend, wenn das Jesuskind in der mit Stroh bis zum Rand gefüllten Krippe lag – in dem Bettchen, das wir ihm bereitet hatten.“

Das sind so wundersam erscheinende Erinnerungen von uns Älteren, die wir noch „die Gnade der frühen Geburt“ hatten, aber wie haben die Jüngeren die Weihnachtsfeste ihrer Kindheit erlebt? Diejenigen, die bei Kriegsende Schulkinder waren, die das letzte Weihnachtsfest vor der Flucht noch zu Hause verbrachten? Eberhard Wewer, Sohn des letzten Landrates des Kreises Bartenstein Dr. Friedrich Wewer, war damals elf Jahre alt. Er hat in seiner Autobiografie das letzte Weihnachten zu Hause dokumentiert, und übersandte uns diese Schilderung aus der Stadt Bartenstein, die viele Flüchtende aus den bereits von der russischen Front überrollten Gebieten aufgenommen hatte. „Am 24. Dezember 1944 rief, wie in jedem Jahr, das mächtige, wohlklingende Glockengeläut der Stadtkirche mit seinem vollen friedlichen Ton zur Christvesper. Von allen Seiten der Stadt strömten die Menschen zum weihnachtlichen Festgottesdienst. Meine Mutter, meine drei Brüder und ich waren mitten unter ihnen. Unser lieber Vati fehlte zum ersten Mal. Vielen Bartensteinern begegneten wir, die wir kannten, die uns kannten. Verhaltene Grüße gingen hin und wieder. Als wir durch den Turmeingang die mit Tannenbaum und Kerzen geschmückte Kirche betraten, war sie schon übervoll. So viele Menschen, eingemummelt in dickste Winterkleidung, eng gedrängt im Kirchenschiff, überwältigt von der gewaltigen Höhe dieses Gotteshauses. Stumm und erschüttert waren sie alle, leiderfüllt angesichts ihres Schicksals und kummerbeladen. Menschen aus Dörfern und Städten der Weiten Ostpreußens, zu Hunderten und Aberhunderten, Flüchtlinge in ihrer Ungewissheit, was alles noch kommen würde, in tiefer Sorge um ihre Heimat, um ein zurückgelassenes Anwesen, ihr Zuhause, um die geliebten Tiere, um die vielleicht noch zurückgebliebenen Angehörigen und Nachbarn. Und all die Bartensteiner Bürger selbst, die in ihrer Stadtkirche zur Weihnachtszeit ebenso die Gottesnähe suchten. Auch sie in dem vollen Bewusstsein, sich in allernächster Zukunft fügen zu müssen in ein endgültiges Verlassen der Stadt und in die Schrecken von Flucht und Vertreibung. Unser Superintendent Feist, ein den Bartensteinern vertrauter Prediger, der auch mich getauft hatte, sprach vom Altar die Gebete und Fürbitten um Gottes Hilfe für jeden Einzelnen und für unser ganzes Vaterland. Er sprach einfühlsam, selbst ein Betroffener. Von den Vätern, Söhnen, Brüdern, die gefallen waren oder vermisst wurden, die noch an der Front standen oder schon in Gefangenschaft leiden mussten. Von den Frauen, denen die ganze Last der Verantwortung aufgebürdet und denen teilweise auch unsägliches Unheil zugefügt wurde. Er sprach die Kinder an, deren Liebe zu den Eltern ihnen eine stützende Hilfe sein würde in der drohend nahen und ungewissen Zukunft. Die vom Schicksal zusammengewürfelte Gemeinschaft und der Chor waren aufgewühlt und sangen die alten Weih­nachtslieder so gut es unter Tränen überhaupt möglich war. Die festlichen Klänge der wunderbaren Orgel, die unser Kantor Klause zum letzten Mal für unsere Gemeinde spielte, überwältigten uns. Die Weihnachtsgeschichte kam von der Kanzel in jenem vertrauten ostpreußischen Tonfall, den wir gewohnt waren und so liebten.“

Viele, die damals Kinder waren, haben jede Erinnerung an die folgende Zeit abgeblockt oder versucht, sie zu löschen. Andere haben sie mehr oder weniger aufgearbeitet oder sind noch dabei wie die kleine Gruppe der Königsberger Kinder um Helga van de Loo, die sich spät zusammengefunden haben, aber jetzt umso enger zusammenhalten. Diese Kinder waren in Königsberg elternlos zurückgeblieben und erlebten krank, unterernährt, der körperlichen wie seelischen Not hilflos ausgesetzt die Nachkriegsjahre in der zerstörten Stadt. Wir haben über den Gedenkstein an ihre damals in Königsberg verstorbenen Weggefährten berichtet, den die kleine Gemeinschaft auf dem Luisenfriedhof in Königsberg errichtet hat. Dort wurde inzwischen auf dem Sockel eine Plakette mit russischer Übersetzung der Inschrift angebracht, ein zweiter Rosenstrauch wurde gepflanzt. Über eine geplante Reise nach Königsberg im Frühsommer 2012 und über ein Treffen der Gruppe im Ostheim in Bad Pyrmont werden wir berichten. Diese persönlichen Begegnungen sind sehr wichtig. Eine von ihnen, Edith Matthes, hat das so formuliert: „Die Erinnerung an jene bedrückende Zeit, da unsere unbeschwerte Kindheit endete, ist so anhaltend und wiederkehrend und scheint sich im Alter zu verstärken. Man braucht Glaubenszuversicht, um dem Überleben Dankbarkeit abzugewinnen, denn die Verluste schmerzen ein Leben lang. Zum Segen wurde mir die Begegnung mit Menschen, die ein Gleiches erlebten. Die Trauer lässt sich gemeinsam leichter ertragen.“ Und das kommt auch in ihrer Weihnachtsbotschaft an die Mitglieder zum Ausdruck: „Liebe Weggefährten, Landsleute, Kinderhäusler, an grauen Tagen, aber auch im Lichterglanz der Adventszeit mit Blick auf Weihnachten scheint sich die Erinnerung besonders lebhaft in unsere Gedanken zu drängen. Denn gerade in unseren Kindertagen erlebten wir eine Zeit, da uns die frohe Botschaft nicht erreichte. Für viele von uns liegen jene Weihnachten im Dunkel, erfüllt von so viel menschlichem Leid, dass das Erinnern daran einfach versagt. Die Begegnungen mit Euch und jeder freundliche Kontakt bedeuten für mich herzerwärmendes Erleben, dem ich mit dieser Weihnachtsbotschaft voller Dankbarkeit Ausdruck geben möchte.“

Die Weihnachtsfeste nach Flucht, Vertreibung, Gefangenschaft, als Geduldete im eigenen Land oder nach mühsamem Neubeginn irgendwo, sie haben sich fest in unsere Erinnerung eingeprägt. Wie dankbar war man, wenn man irgendetwas finden konnte, das ein wenig Freude in diese grauen Tage brachte. Ich weiß noch, wie ich verzweifelt nach einem Weihnachtsgeschenk für meine kranke Mutter suchte, als wir in einem Flecken in der Lüneburger Heide endlich ein Obdach gefunden hatten. Es fehlte alles, einfach alles, und am meisten Wäsche, denn wir hatten so gut wie nichts gerettet. Sie hatte kein Nachthemd zum Wechseln. Das war das Schlimmste für die Bettlägerige. Der Ort war von den Kriegswirren fast verschont geblieben, und wir hatten auch hilfsbereite Menschen gefunden, die für unsere Mutter ein Federbett gegeben hatten, aber ein Nachthemd war nicht aufzutreiben. Das erzählte ich einer Einheimischen, zu der ich großes Vertrauen hatte, denn sie war in der Kommunalverwaltung tätig und hatte uns die Aufenthaltsgenehmigung ermöglicht, nachdem der Bürgermeister uns Heimatlose abgewiesen hatte. In der frühen Dämmerung des Heiligen Abend stand sie plötzlich vor der Türe unserer Flüchtlingswohnung, ein Päckchen in der Hand: „Da, für Ihre Mutter.“ Es war ein Nachthemd, ein altes, aber nie gebrauchtes, es stammte wahrscheinlich aus der Aussteuer ihrer Mutter, denn es war aus feinem Leinen mit handgearbeiteten Spitzen. Dieses Nachthemd war für meine Mutter das schönste Weihnachtsgeschenk, immer wieder strich sie mit der Hand über das Leinen, das sie an ihre Jugend auf dem ostpreußischen Bauernhof erinnerte.

„Ich war glücklich, richtig glück­lich“. Diesen Satz aus einer Erinnerung von Klaus Josef Schwittay könnte ich somit auch für mich übernehmen, obgleich er das erste Weihnachtsfest nach dem Krieg in seinem ostpreußischen Heimatort verlebte, der unter russischer, dann polnischer Verwaltung stand. Was ihn so glücklich gemacht hat, lest es selber: „Wir bewohnten damals in Jomendorf zwei Zimmer und eine kleine Küche. Wir, das waren Großmutter, Mutter, Tante, Bruder, Cousin, Cousine und ich, der Jüngste im Bunde. Unser Weihnachtsbaum, geschmückt mit selbst gebastelten Sternen, Ketten aus buntem Papier und den von Mutter lang gehorteten Kerzen ist mir nie mehr aus dem Sinn gegangen, ich sehe ihn heute wie damals hell erleuchtet vor mir stehen. Früh morgens am Heiligabend machten sich Mutter und Tante auf, um in Allenstein etwas Essbares zu besorgen. Für einen Unterrock und Bettwäsche bekamen sie auf dem Schwarzmarkt Salzheringe, die von Mutter zubereitet eine wahre Delikatesse waren. Tage vor dem Fest wurde der berühmte ostpreußische Pfefferkuchen zubereitet. Der fehlende Zucker wurde durch Rübensirup, die anderen Zutaten durch mir nicht mehr bekannte Naturalien ersetzt. Aber es war ein köstliches Gebäck geworden. Am Abend standen wir an dem wunderschönen Weihnachtsbaum und sangen leise: Stille Nacht, heilige Nacht … Anschließend gab es aus Streichholzschachteln und Stofflappen gebasteltes Spielzeug. Unser Festmahl bestand aus Salzheringen, Kartoffeln und Pfefferkuchen, und ich war glücklich, richtig glück­lich! Obwohl diese Weihnacht eine sehr bescheidene war, sprechen wir noch heute vom schönsten Weihnachtsfest.“

So hat wohl jeder von uns seine Erinnerungen, die auch in diesem Jahr in vielen Briefen anklingen. Einen Wunsch wollen wir erfüllen, den eine heute in Lüneburg wohnende Ostpreußin an uns herangetragen hat. Sie bat um die Veröffentlichung eines Gedichtes von Tamara Ehlert, das sie besonders berührt. Es spricht nicht von dem Verlust der Heimat, es spricht von dem, was alle damals erlebt haben, Krieg, Tod, Überstehen. Es nennt sich „Christbäume“:

Die Sonne ist eine Apfelsine im Nebelnetz,

Nein, ich möchte sie nicht haben,

die soll nur hängen bleiben wo sie ist.

Ich möchte bloß meine Christbäume verkaufen.

An denen könnt Ihr dann die Sonnen aufhängen oder Apfelsinen.

Wie Ihr wollt.

Mein Junge ist in Russland geblieben

Und die Christbäume, die über meinem Haus standen,

wollte niemand kaufen, niemand in der ganzen Stadt.

Sie haben eisgrün ins Schwarze geleuchtet, damit der Tod den Weg nicht verfehlt.

Der Tod fiel auch auf mein Haus und auf meine Tochter. Seitdem mache ich mir nichts mehr aus Christbäumen.

Ich verkaufe sie nur.

Wenn die Apfelsinensonne fortrollt zünde ich Holzkohlen an.

Ich halte meine Hände darüber und mein krummer Schatten hüpft gespenstisch über den Schnee.

Aber soviel Schnee wie in Russland gibt es hier nicht.

Eure Ruth Geede


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