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14.01.12 / Tanz der Kraniche / Der wortkarge Ostpreuße entdeckte Schreiben als Ausdrucksform

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 02-12 vom 14. Januar 2012

Tanz der Kraniche
Der wortkarge Ostpreuße entdeckte Schreiben als Ausdrucksform

Immer hatte er gehofft, dass sie ihm Fragen stellen würden. Dass seine Frau oder die Kinder Interesse zeigten für das Land, dem er entstammte und an dem er in unverbrüchlicher Treue hing. Wären diese Fragen gekommen – aus ehrlichem, wissbegierigem Herzen – so hätte er angefangen zu erzählen. Von einer entbehrungsreichen und doch mit tausend Freuden gespickter Kindheit, vom Zug der Wildgänse und vom faszinierenden Tanz der Kraniche, wenn diese im Frühling mit lautem Flügelschlagen in die Luft sprangen und so das Fest der wiedererweckten Natur feierten.

Doch was er zu erzählen wusste, blieb ungesagt. Niemand fragte ihn und von sich aus hätte er, der Schweigsame, Verschlossene, nie von Dingen gesprochen, welche die anderen vielleicht nur gelangweilt hätten.

Solange er für die Seinen hatte sorgen müssen, war der Vergangenheit wenig Platz in seinem Dasein eingeräumt gewesen. Lediglich in stillen, einsamen Momenten wanderten die Gedanken heimwärts, erwachte ein alter Traum zu neuem Leben. Irgendwann gab es dann auch für ihn immer weniger zu tun. Nicht mehr tatkräftiges Handeln bestimmte seinen Tagesrhythmus, sondern Passivität und bloßes Zusehen. Nach dem Tod seiner Frau wurde es noch stiller um ihn her. Wohl sahen die Kinder bei ihm regelmäßig nach dem Rechten, aber wenn sie dann fort waren, wusste er, dass es schwerlich noch zu einem echten Gedankenaustausch mit ihnen kommen würde.

Etwas war ihm jedoch geblieben: der Reichtum an Erinnerungen. Und so wärmte er sich an den Bildern seiner Kindheit, dankbar, dass sie seinem Gedächtnis nicht entglitten waren. Doch es gab auch Stunden, da es ihn schmerzlich danach verlangte, sich mitzuteilen. In solch einer Situation hatte er eines Abends, eher zögerlich und ohne jedes Konzept, zu schreiben begonnen. In einfachen linierten Schulheften, wie sie früher von seinen Kindern benutzt worden waren, brachte er seine Erinnerungen zu Papier.

Schon nach den ersten Zeilen verspürte er Erleichterung. Glück-lich, eine Ausdrucksmöglichkeit gefunden zu haben, saß er nun allabendlich am Küchentisch, um eine längst versunkene Welt wieder auferstehen zu lassen. Um die Sache noch anschaulicher zu machen, fügte er seinen Aufzeichnungen kleine Skizzen bei. Was immer es auch war, die Ansicht seines Heimatdorfes vom Seeufer aus, der Grundriss des Elternhauses oder Besonderheiten von Flora und Fauna, mühelos und mit beträchtlichem zeichnerischen Talent, hielt er alles fest, was sich seinem Gedächtnis für immer eingeprägt hatte.

Als das Heft voll war, kaufte er ein neues. Das Schreiben wurde ihm mehr und mehr zum Lebensinhalt. Schon morgens beim Wachwerden freute er sich auf den Abend, auf jene Stunde, da alle häuslichen Verrichtungen erledigt waren und er sich mit einer Tasse Tee und ein paar Keksen auf die Eckbank setzte, um da fortzufahren, wo er tags zuvor aufgehört hatte.

Eines Abends, als er mit heißen Wangen über seinen Aufzeichnungen saß, läutete es an der Tür.

Irritiert legte er den Stift aus der Hand, um nachzusehen, wer da so spät noch etwas von ihm wollte. Erst beim Blick durch den Türspion fiel ihm ein, dass sein jüngster Sohn ja versprochen hatte vorbeizukommen, um den tropfenden Wasserhahn zu reparieren.

„Grüß dich, Papa!“ Mit langen Schritten marschierte Horst in die Küche voraus. Vielleicht war es ein Reflex, vielleicht auch Furcht, sein Sohn könnte sich lustig machen über das, was ihm selbst doch wichtig und kostbar war – jedenfalls versuchte er hastig, das aufgeschlagene Heft in der Schublade verschwinden zu lassen. Aber Horst war schneller. Gleich beim Betreten der Küche fiel sein Blick auf das Schulheft.

„Sag bloß, du führst ein Haushaltsbuch?“ schmunzelte er und blätterte in den Seiten.

Minuten verstrichen.

„Das ist eine sehr schöne Zeichnung. Ich wusste gar nicht, dass du so gut malen kannst.“ Horst schaute ihn an, so wie man einen Fremden ansieht: „Was sind das für Vögel? Reiher?“

„Kraniche“, erwiderte der alte Mann und schämte sich, dass seine Stimme rau und brüchig klang. „Jedes Jahr im Frühling tanzten sie auf unseren Wiesen.“

„Warum hast du uns nie davon erzählt ...?“

„Ihr habt ja nie gefragt!“, drängte es ihn zu sagen. Doch dann lächelte er nur: „Ich hatte wohl Angst, es könnte euch nicht interessieren.“

Horst warf ihm einen langen Blick zu. Und dann geschah etwas, das den alten Mann eigentlich hätte ungeduldig machen müssen, ihn stattdessen aber mit stiller Freude erfüllte. Denn während der Wasserhahn unverdrossen vor sich hin tropfte, gab sein Sohn sich einer längst versunkenen Welt hin. Renate Dopatka


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