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21.01.12 / Von Schmugglern und Pferdedieben / Oft kamen ihr die ostpreußischen Erzählungen der Mutter in Erinnerung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-07 vom 21. Januar 2012

Von Schmugglern und Pferdedieben
Oft kamen ihr die ostpreußischen Erzählungen der Mutter in Erinnerung

Es war einmal…“ so fängt fast jedes Märchen an. Auch die Geschichte, mit der ich Nele ins Reich der Träume hinüberzulotsen versuchte. „Übernimm du es doch bitte, Nele ihre Gutenachtgeschichte vorzulesen“, hatte mich Freundin Susanne gebeten. Während sie selbst in dem vom schwachen Schein der Nachttischlampe erhellten Kinderzimmer aufräumte, machte ich Nele mit Rumpelstilzchen bekannt. „ … und so lebten sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage …“ Ich näherte mich dem Schluss. „Noch eine!“ bettelte Nele. „Bist du denn noch gar nicht müde?“ fragte ich mit leisem Seufzer. Seitlich auf der Bettkante zu hocken ging doch mächtig ins Kreuz. Wildes Kopfschütteln. „Na gut, eine lese ich dir noch vor – dann wird aber geschlafen!“ „Ich mach uns inzwischen was Leckeres“, rief mir Susanne leise zu und verschwand in Richtung Küche.

Während Nele und ich erneut ins Reich der Feen und Prinzessinnen eintauchten, streifte mich für Sekunden die Erinnerung an meine eigene Kindheit. Wie Nele jetzt, so hatte auch ich einst begierig alles in mich aufgesogen, was mir an Spannendem zu Gehör gebracht wurde. Natürlich liebte ich Märchen, mehr noch aber hatten es mir die meist recht schaurigen Geschichten angetan, die meine Mutter aus ihrer ostpreußischen Heimat mitgebracht hatte. Sie selbst hatte diese als kleine Marjell von ihrer Mutter erzählt bekommen und gab sie nun an mich weiter.

„Bitte, bitte, noch eine!“ Neles Stimmchen vermischte sich mit meinem eigenen fernen Kindheitsruf, übertönte ihn und stellte mich so auf festen Boden. Auf den Boden der Gegenwart.

Später, im vergrößerten gemütlichen Freundeskreis beim Wein, als das Gespräch Themen berührte, die mich nicht sonderlich interessierten, holte mich die Vergangenheit wieder ein. Einzelne Geschichten kamen mir in den Sinn. Erzählungen von einsam gelegenen Bauernhöfen, von Schmugg-lern, Pferdedieben und entlaufenen Zuchthäuslern. Die großen Wälder Masurens und die Nähe zur polnischen Grenze spielten eine nicht unbedeutende Rolle, ebenso die völlige Abgeschiedenheit der sogenannten Abbauten. Es waren keine der Phantasie entsprungenen Geschichten, sondern Ereignisse, die meine Großmutter entweder selbst in der Zeitung nachgelesen oder aber von Verwandten und Nachbarn erzählt bekommen hatte. Erst in späteren Jahren wurde mir bewusst, dass der Großteil dieser Geschichten in der Zeit des Ersten Weltkrieges angesiedelt war, als die meisten ostpreußischen Frauen ihre Höfe ohne den an der Front stehenden Ehemann bewirtschaften mussten.

Nur vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum zum Beispiel jene Bäuerin, die im nächsten Dorf ihre Kuh verkaufen wollte, mutterseelenallein durch dunk-len Forst marschieren musste. Dass der Käufer, ein Metzger, ihr auf dem Heimweg in ebenjenem Waldstück auflauerte, um ihr Geld und Leben zu rauben – an dieser Stelle kämpfte ich jedes Mal schluckend und bibbernd gegen Angst und Tränen an. Doch gerade weil man sich dabei so schön gruseln konnte, ließ ich mir diese Geschichte immer wieder gern erzählen.

Pädagogen und Psychologen mögen diese Art von Erlebnisberichten als wenig kindgerecht verurteilen, so wie man sich ja auch über die vermeintlichen Grausamkeiten Grimmscher Märchen entsetzen kann. Geschadet haben mir diese ostpreußischen „Räuberpistolen“ jedenfalls nicht. Und auch Nele wird ein in Zorn geratenes, sich selbst in zwei Teile reißendes Rumpelstilzchen nicht verstören, kann sie sich beim Zuhören doch vertrauensvoll in meine Armbeuge kuscheln, weiß sie sich beschützt und geborgen. So wie auch ich nur nach Muttchens Hand zu greifen brauchte, wenn mich eine Gutenachtgeschichte um den Schlaf zu bringen drohte. Renate Dopatka


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