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21.01.12 / Bis zum letzten Atemzug / Für den Grafen stand fest, dass er nicht mit auf die Flucht ginge

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-07 vom 21. Januar 2012

Bis zum letzten Atemzug
Für den Grafen stand fest, dass er nicht mit auf die Flucht ginge

Gemütlich brannte das Kaminfeuer, im großen Saal war es halbdunkel. Der Gutsbesitzer fachte die Glut neu an und lehnte sich in seinem Lehnstuhl zurück, bedächtig zog er an seiner Pfeife. Dabei fiel sein Blick auf die Hirschgeweihe an der Wand, die sein Vater erhalten hatte, als er 1902 zusammen mit Kaiser Wilhelm in Rominten zur Jagd war.

In dem großen Saal des Rittergutes und im Treppenaufgang hingen kostbare Bilder und Gobelins, hier befanden sich auch wertvolle Vitrinen und Sammlungen, Orden und Ehrenzeichen. Sie stammten noch aus der Zeit der napoleonischen Kriege, der Preußenkönig Wilhelm III. hatte sie an einen Urahnen anlässlich der Schlacht von Pr. Eylau verliehen. In einem alten, kleinen Holzkästchen war noch die Kabinettsorder aufbewahrt mit der persönlichen Unterschrift des Königs.

Draußen hörte man leichten, aber andauernden Kanonendonner, aber das störte den 91jährigen Rittergutsbesitzer nicht. Auch nicht die Tatsache, dass vor zwei Tagen, am 17. Januar 1945, alle seine Angehörigen, die Tochter mit Kindern und Neffen, mit den beiden Trakehnern und dem großen Pferdeschlitten, vollbeladen auf die Flucht in Richtung Pillau gegangen waren. Für ihn gab es überhaupt kein Überlegen, es war klar, er wollte, er musste hier bleiben auf dem Gutsbesitz seiner Ahnen. Sein treuer Diener kam herein und fragte nach Wünschen. Er war der einzige, der noch geblieben war, außer der alten Magd, die aber nicht mehr richtig gehen konnte.

Inzwischen war es draußen stockdunkel geworden. Langsam erhob sich der Graf und blickt auf die schweren, massiven Leuchter, die von der getäfelten Decke hingen. Kaum merklich tickte die alte Standuhr, sie zeigte kurz vor sechs Uhr. Doch der Graf stand weiter unbeweglich, er starrte auf das kunstvolle Wappen am Treppenaufgang. Seine Gedanken gingen zurück, vor 400 Jahren etwa war dieses Haus erbaut, mehrfach umgebaut und erweitert worden zu dem großen Rittergut, das es heute war. Es blieb der Stammsitz der Familie, in deren Reihen berühmte Adelige als Offiziere gedient hatten, hier wurden viele Feste gefeiert, Taufen abgehalten, Trinksprüche geklopft. Es fanden auch große Ereignisse und Festessen statt, von Hindenburg war im Februar 1915 zu Gast gewesen und hatte hier in diesem Fauteuil gesessen.

Der Graf ging an die hohen Fenster auf der anderen Seite des Saales, hier hingen alte Stiche, die Schlösser im Kurland zeigten. Seine Familie hatte Verbindungen zu den Herzögen von Biron, die bei Mitau residierten. Sinnend stand er davor, vor 1914 war er hier einmal für längere Zeit zu Besuch gewesen und hatte Kurland bereist.

Draußen war es inzwischen sehr kalt geworden, still, ganz still fielen vereinzelt Schneeflocken. Eine gewisse Feierlichkeit schien sich auszubreiten. Die alte Magd wollte gerade zum Essen bitten, als lautes Rufen, Poltern, Kommandos zu hören waren. Fremde Stimmen, Russen. Sowjetsoldaten waren in das Idyll eingedrungen.

Der alte Graf stand wie erstarrt. Er verstand nicht, wie kamen die Russen auf sein Gut, was wollten sie hier? Weswegen schrien sie Kommandos, Befehle, das Gewehr im Anschlag? Ein letzter hilfloser, verzweifelter Blick des alten Grafen an die Wand, er suchte das Bild von Hindenburg. In Tannenberg – Masuren 1915 – war es auch so gewesen.

Plötzlich waren sie im großen Saal, der Graf umringt von schreienden, fuchtelnden Soldaten, alle viel kleiner als er, der, hoch aufgerichtet, entsetzt dastand. Ein Russe schoss auf die Fahne, die im Treppenhaus stand, ein anderer warf einen Stuhl gegen den großen Wandspiegel. Abwehrend hob der Graf die Hände, wollte etwas sagen oder rufen. Die erste Kugel traf ihn genau in die linke Wange, ungläubig starrte er auf den kleinen Russen vor ihm, der jetzt noch einmal schoss. Der Graf fiel sofort um, der Diener wollte ihm zur Hilfe eilen, auch er fiel vornüber, getroffen. Klirrend stürzte das große Wappen auf den Steinboden. Die alte Magd, die plötzlich erschien, ereilte ein gnädiges Schicksal, eine MG-Salve schlug in das Treppenhaus ein.

Kurz darauf sah man aus der Ferne ein einsames, großes, altes, ehrwürdiges Gebäude im Feuerschein. Es stand in einem verschneiten, groß angelegten Park. Langsam begann das Dach seine Lage zu verändern und einzustürzen. Aber niemand sah hin. Auch nicht die russischen Soldaten, die in langen Kolonnen weiter nach Westen zogen – in Richtung Gumbinnen. Heinz Czallner


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