19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
21.01.12 / Post für Fräulein Schlick / Schicksal einer einsamen Vertriebenen in den Nachkriegsjahren

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-07 vom 21. Januar 2012

Post für Fräulein Schlick
Schicksal einer einsamen Vertriebenen in den Nachkriegsjahren

Es tut mir Leid, Frau Schlick, ich hab’ heute nichts für Sie dabei.“ Briefträger Böttcher bedauerte es immer wieder, dass er so selten Post für Frau Schlick hatte, denn niemand wartete tagtäglich so sehnlichst auf Post wie sie. Manchmal versuchte er, sie ein wenig über die Enttäuschung hinwegzutrösten, indem er ein nettes, meist belangloses Gespräch mit ihr anfing. So hatte er im Lauf der Zeit schon einiges über sie erfahren. Sie hatte im Krieg ihre ganze Familie verloren. Über den Verlust ihres Ehemannes und ihrer beiden Söhne konnte die arme Frau nicht hinwegkommen.

Nach dem Krieg hatte es sie in diese Gegend verschlagen. In dem kleinen Vorort, wo sie ein hübsches Häuschen bewohnte, war sie nie wirklich heimisch geworden. Sie hatte wohl ein paar Bekanntschaften gemacht, aber zu einer richtigen Freundschaft war es leider nicht gekommen. Auch mit ihren Nachbarn hatte sie wenig Glück: Sie gehörten alle zu der Sorte Menschen, die schnell vorwärts kommen wollen und folglich nichts anderes im Kopf haben als arbeiten und Geld verdienen. Von solchen schwerbeschäftigten Leuten kann man natürlich nicht auch noch erwarten, dass sie sich gelegentlich um eine alte Nachbarin kümmern. Nach jedem Gespräch hatte Herr Böttcher den Eindruck, dass Frau Schlick geradezu auflebte, und das gab ihm wiederum ein gutes Gefühl.

Auch diesen Morgen beobachtete Frau Schlick, die sich gerade ein wenig in ihrem kleinen Vorgarten zu schaffen machte, wie der Postbote eine Menge Post in die Briefkästen ihrer Nachbarn warf. Zur linken Seite war es diesmal sogar besonders viel: Da hatte wohl jemand Geburtstag.

„Wie herrlich muss es sein, zum Geburtstag so viele Briefe und Karten zu bekommen!“ seufzte Frau Schlick. „Ja, soviel bekomme ich auch nicht“, versuchte Herr Böttcher sie zu trösten. Gleichzeitig nahm er sich vor, ihr aus dem bevorstehenden Urlaub eine besonders schöne Karte zu schicken. „Wann haben Sie denn eigentlich Geburtstag, Frau Schlick?“ fragte er so unauffällig wie möglich, denn er hatte sich plötzlich entschlossen, diese Frau aus ihrer Einsamkeit zu reißen. Es wäre doch gelacht, wenn ihm dazu nicht etwas einfallen sollte! Warum war er bloß nicht früher auf die Idee gekommen? Der Mensch ist halt immer zu sehr mit sich selbst beschäftigt! „Ich? Am 20. August. Wieso?“ „Och, nur so. Wie wunderbar die Malven bei Ihnen wieder blühen, Frau Schlick! Ihr Vorgarten ist doch ein richtiges, kleines Paradies!“ „Ja, finden Sie? Das freut mich aber! Möchten Sie vielleicht ein paar Blumen mit nach Hause nehmen? Ich schneide Ihnen gern einen Strauß.“

„O, das wäre aber fein! Da wird sich meine Frau freuen. Aber wenn es Ihnen recht ist, mach ich zuerst meine Runde. Nachher hole ich die Blumen dann ab.“ „Ist recht, Herr Böttcher!“

Der Briefträger bekam am Ende seiner Runde nicht nur einen farbenfrohen Blumenstrauß, sondern auch ein Glas Likör. Und beide verzeichneten diesen Tag als sehr erfreulich.

Der erste Schritt aus Frau Schlicks Einsamkeit war getan, und es sollten bald mehrere folgen. Zu Hause sprach Herr Böttcher mit seiner Frau und den Kindern Gisela und Thomas über das Schicksal der Frau Schlick und über seine Pläne, etwas für sie zu tun.

Am 20. August kam Frau Schlick aus dem Staunen nicht heraus. Der Briefträger überreichte ihr mit betont unschuldsvoller Miene einen enormem Stoß Geburtstagskarten: Alle Freunde und Freundinnen von Gisela und Thomas hatten sich die Mühe gemacht, Frau Schlick zum Geburtstag eine Freude zu bereiten. Natürlich war auch von der Familie Böttcher eine schöne Karte dabei. Das Geburtstagskind war sprachlos.

Aber nicht nur Post bekam sie diesen Tag. Nachmittags besuchte sie die vollzählige Familie des Briefträgers. Seit Jahren hatte Frau Schlick nicht mehr einen so angenehmen Geburtstag erlebt!

Es blieb aber keineswegs nur bei diesem einen Tag. Frau Schlick lud alle ein, die ihr eine Karte geschrieben hatten – ein richtiges Fest gab sie! Sie konnte es selbst kaum fassen. Sie und ein Fest für so viele junge Leute! Die Böttcher-Kinder halfen ihr bei den Vorbereitungen. Das Fest wurde ein Riesenerfolg. Frau Schlick stellte zu ihrer Verwunderung fest, dass sie sehr gut mit den jungen Leuten reden konnte und ihren Besuchern ging es genauso.

Seitdem war Frau Schlick nicht mehr einsam. Mit der Familie Böttcher verband sie schon bald eine echte Freundschaft, und regelmäßig traf man junge Leute bei ihr an. Diese fanden bei ihr – anders als bei ihnen zu Hause – immer ein offenes Ohr für alles, was sie beschäftigte. Für manches Problem wurde gemeinsam eine Lösung gefunden. So wurde sie auch für die jungen Leute eine unentbehrliche Freundin, die immer für sie da war und die fast immer Rat wusste. Auf Post wartete Frau Schlick kaum noch: Ihr Leben war jetzt so ausgefüllt, dass die Post nicht mehr so wichtig war.

Der Postbote Böttcher wunderte sich später darüber, mit welch einfachen Mitteln man einem Mitmenschen zu einem sinnvolleren und erfreulicheren Dasein verhelfen kann. Man muss nur auf den Gedanken kommen! Frieda-Louise Drent


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren