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28.01.12 / Genie des Trivialen / Der vor 100 Jahren verstorbene Karl May begeistert noch heute mit seinen Wildwest-Romanen die Menschen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-12 vom 28. Januar 2012

Genie des Trivialen
Der vor 100 Jahren verstorbene Karl May begeistert noch heute mit seinen Wildwest-Romanen die Menschen

Der weltweit bekannteste und mit geschätzten 100 Millionen verkauften Büchern am meisten gelesene deutsche Autor ist der vor 100 Jahren am 30. März verstorbene Karl May (1848–1912). Der Webersohn aus Hohenstein-Ernstthal war auch einer der produktivsten: Reichlich 50000 Manuskriptseiten hat er im Laufe von gut drei Jahrzehnten gefüllt. Am bekanntesten waren und sind sein Orient-Romanzyklus (1881–1888) und die Wildwest-Romane (1880–1896). Mehr als 20 Filme wurden seit den 60er Jahren auf der Grundlage von Karl Mays Abenteuergeschichten gedreht. Noch zu seinen Lebzeiten entstanden die ersten Bühnenadaptionen. Aus Anlass des bevorstehenden 100. Todestags von Karl May am 30. März 2012 gesellt sich zum umfangreichen Schrifttum über den Erfolgsautor und sein Werk ein weiteres Buch mit dem Titel „Karl May. Untertan, Hochstapler, Betrüger“. Durch kritisches, intuitives Hinterfragen ist sein Autor Rüdiger Schaper, Leiter des Kulturressorts des „Berliner Tagesspiegel“, dem Phänomen Karl May in einem faszinierenden journalistischen Essay auf den Grund gegangen.

Bei Karl May verbinden sich auf einmalige Weise Trivialität und Größe, Gemeinsinn und Genie, so Schaper; er verdiene einen Platz in der Weltliteratur. Mit dieser Ansicht steht er keinesfalls allein da. Viele Größen der heutigen Kunst- und Kulturszene haben Karl May als Erwachsene wiederentdeckt, was etwa Marin Walser kürzlich bekannte, und sie bezeichnen ihn als einen Großen: „Ich halte Karl May für einen großen Dichter, einen der letzten deutschen Großmystiker, die wir noch haben in der Zeit der untergehenden Märchen, den Schöpfer der einzig wahren Heldenlieder des wilhelminischen Zeitalters“, sagte der Regisseur Syberberg.

Rüdiger Schaper hält May darüber hinaus für den Wegbereiter des großen Abenteuer- und Actionkinos. Karl May habe „die Unterscheidung von „E“ und „U“, von Hochkultur und Unterhaltungsliteratur unterlaufen.

Der Autor verweist auf viele Parallelen und Einflüsse, die unter anderem in Kafkas Roman „Amerika“ zu finden seien. Anregender und schöner kann man wohl kaum über den eigenartigen Menschen schreiben, der seine Schriftstellerkarriere als Unterprivilegierter startete, unentwegt über die Abenteuer eines unfehlbaren Helden in fernen, exotischen Gegenden schrieb, als ginge es um sein Leben (und so war es ja wohl auch), und der sich selbst mit beachtlicher Eitelkeit in Szene setzte. Zuletzt phantasierte er sogar über eine fremde Welt. Seine jungen Leser nahmen natürlich viel mehr die Außenwelt wahr als die allen May-Romanen innewohnende Einladung zur inneren Einkehr. Aber nachhaltig war der Einfluss der spannenden Bücher mit ihrem passagenweise sperrigen Inhalt doch, da das Gute darin verlässlich siegt. Karl May urteilte immer streng moralisch, und er blieb bei seiner eigenen Religion.

In den Wildwest-Romanen nimmt der Ich-Erzähler – es ist Karl May, der jahrelang an der Legende strickte, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi zu sein – Standpunkte der von den Weißen bedrängten Indianer an. Tatsächlich hat er den Orient erst 1899/1900 bereist, und nur einmal, 1908, war er in den USA. Old Shatterhands Blutsbruder ist Winnetou, der ehrenwerte Mensch. Die Menschen sind im Grunde alle gleich – es war unter anderem diese Botschaft, verbunden mit einem pessimistischen Blick auf die Zivilisation, welche dem alternden Erfolgsautor, der in einer luxuriösen Villa in Radebeul bei Dresden lebte, seit den 1890er Jahren hasserfüllte Feinde und Neider erstehen ließ. Hinzu kam Mays unerwartete Attacke auf die deutsche Kolonialpolitik im Fernost-Roman „Und Friede auf Erden“ (1901). Eine Art Kulturkampf wurde jahrelang öffentlich ausgetragen. Offiziell warfen ihm seine Gegner Hochstapelei und die Verbreitung von „unsittlichen Schriften“ in seinen frühen Veröffentlichungen vor. Jahrelang musste er sich juristisch dagegen zur Wehr setzen und führte darüber hinaus Prozesse wegen Urheberrechten. Damals wurden seine Gefängnisstrafen wegen diverser Betrügereien aus den 1860er Jahren bis 1874 publik. Jahrzehnte später haben auch die Literaturwissenschaftler den „Phantasten“ wieder klein halten, ihn „an die Leine legen“ wollen, kritisiert Schaper, der demgegenüber die Devise ausgibt: „Befreit Karl May!“ In seinen letzten Lebensjahren trat der schwerkranke Schriftsteller auf seinen Vortragsreisen als pazifistischer Visionär auf. Dagmar Jestrzemski

Rüdiger Schaper: „Karl May. Untertan, Hochstapler, Übermensch“, Siedler Verlag, München 2011, geb., 239 Seiten, 19,99 Euro


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