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28.01.12 / La Bohème in Königsberg / Der Theaterzug fuhr auch im Kriegswinter 1943 noch in die Stadt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-12 vom 28. Januar 2012

La Bohème in Königsberg
Der Theaterzug fuhr auch im Kriegswinter 1943 noch in die Stadt

Es lag wohl an der Theater- und Musikbegeisterten Familie, dass ich schon mit sechs Jahren von Heiligenbeil nach Königsberg in die Oper fahren durfte, eine Fahrt, zu der mich mein Onkel eingeladen hatte. Meine erste Oper war „Hänsel und Gretel“, aus der ich den Abendsegen aber schon singen können sollte. Das Fest des Jahres war gerade vorüber, an dem die Familie auch dreistimmig Beethovens „Heil‘ge Nacht, oh gieße du“ gesungen hatte. Großvater, Mutter, Onkel und Tanten waren doch jahrzehntelang Mitglied im Kirchenchor und Sängerbund gewesen. Welch ein Erlebnis aber war nun für mich diese Opernaufführung, zumal die Engel wirklich geflogen kamen. Danach konnte man bequem mit dem Theaterzug in einer knappen Stunde wieder daheim sein. Man befand sich außerdem in netter Gesellschaft, denn der Zug hielt an allen Stationen und viele Familien mit Kindern waren unter den Fahrgästen.

Im Jahr darauf wurde Schneewittchen gegeben und ich hatte schon bei den Vorlesungen des Märchens heimliche Tränen vergossen. Wieder durfte ich mit meinem Onkel im 1. Rang vorne sitzen und das wirklich sehr schöne Schneewittchen bewundern. Dann aber kam die Szene, in der sie in den vergifteten Apfel beißen sollte. In großer Aufregung sprang ich auf und rief laut: „Schneewittchen! Nicht in den Apfel beißen!“ – Mein Onkel konnte mich zwar beruhigen, aber das Publikum lachte und das empfand ich als besonders schlimm. Gottlob hatte dieses Drama dann doch noch ein gutes Ende, so dass ich beruhigt mit dem Theaterzug heimfahren konnte.

Jahre später lasen wir mit verteilten Rollen in der Schule Schillers „Maria Stuart“. Im Schauspielhaus in Königsberg konnten wir dann mit der Klasse das Theaterstück erleben. Zuvor gab es strikte Anweisungen: Es ist ein Trauerspiel und man klatscht nicht dazwischen, frühestens am Ende der Vorstellung! Doch sehr gespannt verfolgten wir die uns schon bekannten Dialoge. – Die Heimfahrt im Theaterzug wurde dieses Mal recht lustig.

Inzwischen war der Krieg ausgebrochen, aber Opern- und Schauspielhaus waren immer noch voll in Betrieb und ständig ausverkauft. In der Stadthalle trat Elisabeth Schwarzkopf auf und ich gab für diese beeindruckende Darstellung mein erstes selbstverdientes Geld aus. 60 Jahre später konnte ich diese begnadete Sängerin nochmals im Süden erleben und bewundern.

Auch während des Krieges fuhr der Theaterzug immer noch nach Königsberg und im Opernhaus wurden viele Stücke zur Erheiterung gegeben – auch Musicals wie „Maske in Blau“ und Operetten wie „Der Vetter aus Dingsda“ oder „Die Fledermaus“. Inzwischen sah man in den Theatern viele Besucher in Uniform. Zur Winterzeit gab es eine bemerkenswerte Aufführung von „La Bohème“. Dazu stimmte eigentlich alles, man fuhr durch schneeverschneite Landschaften und fror schon etwas wie die Mimi. Der Soldat neben mir musste bald darauf nach Osten abreisen. Würden wir uns wiedersehen oder müssten wir vielleicht sogar in Schnee und Kälte sterben wir die Mimi in der Oper?

Vieles oder gar zu vieles überlebten wir danach und hatten doch das große Glück, Opernaufführungen mit Spitzenkräften in der weiten Welt zu besuchen, doch keine blieb so nachhaltig in Erinnerung wie „La Bohème“ in Königsberg im Kriegswinter 1943. Noch konnte man mit dem Theaterzug nach Hause in das wohlbehütete Heim fahren.

„Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“, lautete einmal ein Aufsatzthema, doch haben sich die Zeiten und Möglichkeiten dahingehend geändert. Nun kann man immer noch die altbekannten Stimmen und Arien auf Platten, CDs oder MP3 hören oder auf „YouTube“ sowohl ansehen als auch hören. Der Trost ist uns geblieben und die Erinnerung kann uns keiner mehr nehmen.

Bei dem ersten Besuch in Königsberg nach einem halben Jahrhundert sahen wir den Zug nach Heiligenbeil noch vom selben Gleis Nr. 5 abfahren. Ob wohl jemand diese Strecke zu einem Theaterbesuch fahren wird? Gisela Hannig


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