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28.01.12 / Von Kindern lernen / Die Unkompliziertheit der Jungen machte den Opa nachdenklich

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-12 vom 28. Januar 2012

Von Kindern lernen
Die Unkompliziertheit der Jungen machte den Opa nachdenklich

Sein Name war Ludwig, er war 60 und nicht auf den Kopf gefallen und er war ein Mensch, mit dem man auskommen konnte. Nur ein Dorn steckte in seinem Fleisch, und das war sein Nachbar Gustav, fast gleichen Alters, auch nicht dumm und ebenfalls recht umgänglich.

Sie waren immer Freunde gewesen, doch seit einem Jahr standen ein paar Blumen zwischen ihnen, Margeriten, die an Ludwigs Gartenzaun geblüht hatten, große Schwestern der Gänseblümchen und ebenso rein und weiß und unschuldig. Sie waren Ludwigs Lieblingsblumen gewesen. Wenn die Männer am Zaun standen, einer hüben, der andere drüben, hatte Gustav die Margeriten jedesmal laut bewundert und seine Worte hatten dem Nachbarn gutgetan. Bis zu jenem Nachmittag ..Ludwig kam den Gartenweg hinauf geschlurft, um Schnittlauch und Petersilie für den Eintopf seiner Maria zu schneiden, da fiel sein entsetzter Blick auf die Margeriten, die ihre nackten Stängel anklagend im Sommerwind hin- und her bewegten. Ludwigs erster Gedanke war: „Das war der Nachbar! Er hat die Margeriten geköpft, um mir eins auszuwischen!“

Da halfen keine Beteuerungen, selbst die Tränen von Gustavs Frau bewirkten nichts. Seit jenem Tag herrschte Feindschaft zwischen den Männern und der margeritenlose Zaun trennte nun, zeigte Grenzen, wie es wohl auch die eigentliche Bestimmung eines Zaunes ist, allerdings in anderer Hinsicht.

Heute saß Ludwig, gemütlich an seiner Pfeife ziehend, auf der Terrasse hinter der ausgebreiteten Zeitung. Enkel Nicki genoss seine Schulferien gerade auf dem Kirschbaum. Um die herunterfallenden Kirschen balgten sich zwei Amseln. Ein strohblonder Junge namens Horst kam pfeifend den Gartenweg herauf, hielt unter dem Baum an, kratzte sich verlegen den Wuschelkopf und rief: „Hallo Nicki???“ Keine Antwort. Horst versuchte es noch einmal: „He Nicki, ich bin‘s, der Horsti. Ich möchte dich einladen. Onkel Otto ist mal wieder im Lande und hat mir ein paar Euros spendiert. Für zwei Portionen Eis reicht es allemal.“

Von oben kam nur unwilliges Gegrunze und schließlich die Feststellung: „Ich denke, wir sind verkracht!“ Horst zuckte die Achseln. „Määänsch, das ist doch schon sooo lange her!“ Opa Ludwig hatte längst seine Zeitung weggelegt. Das Geschehen unterm Kirschbaum interessierte ihn. Gerade kam sein Enkel mit Schwung vom Baum heruntergesprungen. Er wischte sich den kirschsaftverschmierten Mund mit dem Handrücken ab und meinte: „Na ja, eigentlich hast du Recht. Um was ging‘s damals eigentlich?“ Wieder bewegte Horst seine Schultern. „Ist doch egal. Oder?“ Die Jungen liefen ins Haus.

Nickis Opa saß nachdenklich in seinem Gartenstuhl und hatte die Stirn in Denkerfalten gelegt. Plötzlich stand er auf, schlurfte an die Haustür und rief: „Bin gleich wieder da, Maria, will mal eben ...!“

Ein paar Minuten später betrat Ludwig die Küche seines Nachbarn und drückte der Hausherrin einen bunten Strauß in die Hände. „Selbstgepflückt“, beteuerte er mit stolzer Miene. Die Nachbarn machten ein Gesicht als sei Ludwig ein Geist und Eva stotterte: „Wieso – warum ...? Mein Geburtstag ist doch längst vorbei.“ „Wie lange sind wir eigentlich verzankt?“ antwortete Ludwig ihr mit einer Gegenfrage. „Ein Jahr“, meinte sein ehemaliger Freund, „aber ich sag‘s dir noch einmal in aller Schärfe: Ich war es nicht, der damals deine Margeriten ...“ „Ich glaube, ich muss dich wohl um Entschuldigung bitten, Gustav.“ Ludwig kratzte sich an seinem rechten Ohr, das immer juckte, wenn er verlegen war, und fuhr fort: „Ich finde, dass ein Jahr des Schweigens zwischen zwei Freunden zu lang ist, nur wegen ein paar Blumen, die eh fast verblüht waren.“ Sein Nachbar

nickte. „Na komm, Ludwig, trink‘ einen Wodka mit mir wie in alten Zeiten. Aber sag mir eins, wie kommt es, dass du deine Meinung so plötzlich geändert hast?“ Ludwig kippte den Wodka und schob das Glas zum Nachfüllen hin. „Tja, mein Enkel, der Nicki und dessen Freund Horst haben mir ‘ne Lektion erteilt, gerade eben unterm Kirschbaum, tja – von Kindern kann man manchmal etwas lernen.“ Gabriele Lins


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