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28.01.12 / Alle sind Experten / Warum jeder Mensch musikalisch ist

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-12 vom 28. Januar 2012

Alle sind Experten
Warum jeder Mensch musikalisch ist

Christoph Drösser, Jahrgang 1958, ist Redakteur im Ressort „Wissen“ einer Wochenzeitung. Über die Kolumne „Stimmt’s“ entstanden die Bücher „Der Mathematikverführer“ (2008) und „Der Physikverführer“ (2010). Diese Reihe zeigt Interessierten, wie Theorien funktionieren, ohne dass der Leser umfangreiche Grundkenntnisse über diese Themen besitzen muss.

Drösser verfolgt mit seinem Buch „Der Musikverführer“ den Anspruch, dass mehr musiziert wird in einer Zeit, in der immer mehr Musik konsumiert, aber nicht selbst „produziert“ wird. Dazu nutzt er vor allem Musikbeispiele aus der Populärmusik, aus dem einfachen Grund, weil er sich damit besser auskennt. Allerdings kommen Mozart und Beethoven nicht zu kurz. Er widmet sich unter anderem den Fragen, weshalb jede menschliche Kultur Musik entwickelt hat, wie Ohrwürmer entstehen, wie man mit Musik Schlaganfallpatienten helfen kann, bei denen das Sprachzentrum betroffen ist, oder wie es das menschliche Gehör schafft aus einem Brei einzelne Töne, Klänge oder Stimmen herauszuhören, warum wir Missklänge empfinden, wie mathematisch westliche Musik wirklich ist und welche Theorien es zur Musikentstehung gibt.

Um zu erklären, warum in uns die Fähigkeit zur Musik steckt und wie wir sie bewusst oder unbewusst nutzen, zieht Drösser Anthropologen und Psychologen heran, setzt sich mit Musikwissenschaftlern und Gehirnforschern auseinander. Damit die Musik aber nicht nur theoretisch bleibt, gibt es eine begleitende Internetseite zu dem Text, auf der Musikbeispiele angehört und textliche Beispiele nachvollzogen werden können.

Beeindruckend, wenn einem bewusst wird, dass wir alle „Musik-hörexperten“ sind. In Radiosendungen beliebte Ratesendungen spielen nur wenige Sekunden ein Lied an und wir wissen genau, um welches Musikstück es sich handelt. Dösser spricht hier von „innerer Jukebox“. Oder von „Fehlentwicklung in der europäischen Kultur“, wenn es um die strikte Trennung zwischen Musik und Bewegung geht. In Konzertsälen sitzt man still und zum Schluss darf geklatscht werden. Dabei gehöre Musik und Bewegung zusammen: „Musik ist Rhythmus, und Rhythmus ist Bewegung, daran zweifelt in anderen Ländern der Welt niemand. Und dieser Zusammenhang ist nicht nur kulturell bedingt, sondern eingebrannt in die Schaltkreise unseres Gehirns. Die Verbindung zwischen Hören und Bewegen ist so unmittelbar, dass es in vielen Kulturen, etwa in Afrika, keine unterschiedlichen Wörter für Musik, Rhythmus und Tanz gibt.“ Der Ursprung unseres Rhythmusgefühls wird nach dem Paläoan-thropologen Steven Mithen auf die Zeit vor etwa 1,8 Millionen Jahren datiert. Der damals lebende Homo ergaster „war der erste, der wirklich auf zwei Beinen … gehen, laufen und springen konnte“. Für diese Fähigkeiten ist eine sehr gute Körperkoordination, eben Rhythmus, erforderlich. Da unser Gleichgewichtssinn dynamisch ist, fallen wir immer kontrolliert, wozu es eines Rhythmus‘ bedarf. Eine Konsequenz daraus war, dass das Gehirn größer wurde, um die Koordination zu meistern. Außerdem „wurden die oberen Extremitäten frei für andere Dinge als die Fortbewegung“, beispielsweise für Kommunikation. „Die ersten holistischen Kommunikationsformen waren ganz gewiss verbunden mit ausgeprägter Gestik. Und man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, dass die neue Beweglichkeit auch die Geburtsstunde des Tanzes war.“

Flott geschrieben führt Drösser in insgesamt zehn Kapiteln weiter durch die Welt der Musik, nie langweilig und immer interessant. Und selbst, wenn man nicht alle Aspekte verstehen sollte, ist der Text dennoch ein Gewinn. Das Buch ist versehen mit einem Register und einer Bibliografie, die zum Weiterlesen anregt.

Christiane Rinser-Schrut

Christoph Drösser: „Der Musikverführer. Warum wir alle musikalisch sind“, Rowohlt, Reinbek 2011, 316 Seiten, 9,99 Euro


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