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28.01.12 / Gefeiert wie ein Popstar / Harvard-Professor befragt Studenten über Gerechtigkeit – Vorlesungen werden über Internet auch in Asien begeistert verfolgt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-12 vom 28. Januar 2012

Gefeiert wie ein Popstar
Harvard-Professor befragt Studenten über Gerechtigkeit – Vorlesungen werden über Internet auch in Asien begeistert verfolgt

2011 hat ihn das Magazin „China Newsweek“ zum einflussreichsten Ausländer des Jahres gewählt, in Japan werden für Karten für eine Lesung von ihm bis zu 500 Dollar bezahlt, in den USA ist er der wohl populärste Harvard-Professor, doch in Deutschland kennt kaum jemand Michael Sandel, obwohl er sich vor allem auf den deutschen Philosophen Immanuel Kant beruft.

Eine Bühne, ein Endfünfziger, ein an die Wand projiziertes Foto von Immanuel Kant und die Frage, was Gerechtigkeit bedeutet; das sind die Zutaten für Harvard-Vorlesungen, die sich größter Beliebtheit erfreuen, doch Michael Sandels Hörsaal – die herrschaftliche, holzvertäfelte Memorial Hall – bietet nur Platz für 1117 Personen. Und obwohl die Vorlesungen auch übers Internet übertragen werden und vergangene Vorlesungen auf www.youtube.de weltweit einsehbar sind, reißen sich die Studenten darum, bei einer Vorlesung des Professors für politische Philosophie live dabei zu sein. Doch was ist so spannend, einen eher unscheinbaren, grauhaarigen Herrn über Kant, dessen britische Philosophen-Kollegen John Locke und John Stuart Mill sowie den US-Denker John Rawl reden zu hören, haben doch bereits unzählige Wissenschaftler vor ihm unzählige Bücher zu diesen Gelehrten geschrieben?

Das Besondere an Sandel ist, dass er allgemeine philosophische Grundsätze mit aktuellen politischen und juristischen Debatten verknüpft und so deutlich macht, dass Philosophie und die Frage danach, was Gerechtigkeit ist, keine trockene Wissenschaft ist, sondern das alltägliche Leben bestimmt. Zudem hat er zwar zu allem einen eigenen Standpunkt und publiziert diesen auch, doch in seinen Vorlesungen stellt er hauptsächlich Fragen, die seine Studenten beantworten sollen. Diese sind immer wieder überrascht, dass man mit über 1000 Leuten in einem Hörsaal so lebendige Diskussionen führen kann. Vor allem aus Asien stammende Harvard-Studenten haben aber ein Problem damit, sind sie doch gewöhnt, für alles feststehende Antworten präsentiert zu bekommen und diese dann in Klausuren nur noch wiederholen zu müssen. Sandels Ziel ist es jedoch, den Studenten das Gefühl dafür zu geben, dass vieles nicht so einfach ist, wie es aussieht.

Während der aus einer jüdischen Familie stammende Professor vom Magazin „China Newsweek“ zum einflussreichsten Ausländer des Jahres gewählt und in Südkorea und Japan bei der Präsentation seines neuesten Buches „Justice.

What’s right thing to do?“ von zahlreichen Bodyguards geschützt werden musste, da seine Fans ihn sonst überrannt hätten, scheint Sandel in Europa nur Kennern der Materie bekannt zu sein. Zumindest bis vor einigen Monaten hatte sich noch kein deutscher Verlag gefunden, der sein neuestes Buch in deutscher Sprache veröffentlichen wollte. Recherchiert man im Netz, stößt man nur auf wenige deutschsprachige Beiträge über Sandel. So wie es aussieht, haben sich bisher nur die „Zeit“ und die „Financial Times Deutschland“ in ihren gedruckten Ausgaben des Promiprofessors angenommen, der „Spiegel“ berichtete offenbar nur im eigenen Fachmagazin „Unispiegel“. Doch in Kombination mit den im Internet abzurufenden Vorlesungen kann man durchaus einen Eindruck davon erhalten, was die Studenten begeistert. Witze darüber, dass Kant nach der Zahl der Besucher seiner Vorlesungen bezahlt wurde und dass ihm, Sandel, dieses System der Honorierung auch nur Recht wäre, dienen der Auflockerung. Doch dann geht es plötzlich um Folter, Designerbabys, Höhe der Gehälter, Umverteilung, Patriotismus und vor allem um tagesaktuelle Themen, sodass jede Vorlesung anders ist. Hinzu kommt, dass sich die Studenten aktiv in die Debatte einmischen, diese also jedes Mal in eine andere Richtung läuft.

Für Sandel ist die Universität auch eine moralische Anstalt, in der die Führungskräfte von morgen ausgebildet werden, wobei anzumerken ist, dass er schon seit 1980 mit kurzen Unterbrechungen dort lehrt und seine Vorlesungen keineswegs nur für Philosophiestudenten sind, sondern auch angehenden Managern und Anwälten im Grundstudium empfohlen werden. Aber auch wenn bisher keine Langzeitfolgen seiner Lehre in der Spitze der US-Elite, in der sich viele Harvard-Absolventen befinden, erkennbar sind, so zwingt er zumindest kurzfristig seine Studenten, ihre Überzeugungen auf den Prüfstand zu stellen. Auf die Frage, ob Männer gegen Geld als Samenspender agieren sollten, erhielt er große Zustimmung. Doch als er auf das Thema Leihmutterschaft zu sprechen kam und dann auch noch fragte, wie sie darüber dächten, wenn eine Leihmutter nach der Geburt des Kindes dieses doch behalten wolle, herrschte große Verwirrung. Während die einen meinten, Vertrag sei Vertrag, waren andere überzeugt, dass man ein Kind nicht kaufen dürfe, wieder andere wollten, dass das Wohl des Kindes Vorrang habe. Nach einer Weile schilderte Sandel, wie Richter in solchen Fällen entschieden hatten, und endete mit dem Eigentumsbegriff von John Locke. Aber auch Kant spielt immer wieder eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, wie Freiheit und Gerechtigkeit zu deuten sind. Kants Credo „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ steht über allen Vorlesungen.

„Public philosophy“ nennt dieser seine eigenen Positionen, die in der Wissenschaft als Kommunitarismus bezeichnet werden. Und auch, wenn das Wort irgendwie nach Kommunismus oder Kommune klingt, ist der Amerikaner Sandel weit davon entfernt. Ein ungezügelter Liberalismus widerspricht Sandels auch kapitalismuskritischen Überzeugungen. Er spricht sich für ein Gleichgewicht zwischen individuellen Rechten und sozialen Pflichten aus und ruft zu mehr Bürgerengagement auf. Kommunitarismus meint also, dass die Freiheit des Einzelnen nur so weit gehen dürfe, wie sie das Wohl der Gemeinschaft nicht gefährdet. Doch auch hier gibt es Parallelen zu Kant: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Rebecca Bellano


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