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04.02.12 / Der Stein regt sich / Niclaus Gerhaert: Dem herausragenden Bildhauer des Spätmittelalters ist in Frankfurt eine attraktive Schau gewidmet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-12 vom 04. Februar 2012

Der Stein regt sich
Niclaus Gerhaert: Dem herausragenden Bildhauer des Spätmittelalters ist in Frankfurt eine attraktive Schau gewidmet

Die schöne Bärbel von Ottenheim gehört zu den größten Prachtstücken des Frankfurter Liebieghauses. Ihren Kopf hat Niclaus Gerhaert von Leyden (um 1430–1473) in Stein gemeißelt. Er gilt als einer der einflussreichsten Bildhauer der Spätgotik. Be-sonders durch „die überraschende Lebendigkeit und berührende Lebensnähe der Figuren setzte er neue Maßstäbe“. Das erklärt Stefan Roller, Kurator der Gerhaert im Liebieghaus eingerichteten Prachtausstellung. Neben 20 Arbeiten von der Hand Gerhaerts und seiner Werkstattgehilfen sind 50 Skulpturen seiner Nachfolger zu sehen.

Über Niclaus Gerhaerts’ Lebensweg ist wenig bekannt. Die Signatur am Grabmahl des Trierer Erzbischofs Jakob I. von Sierck überliefert uns immerhin seinen Namen und seine Herkunft aus den Niederlanden: „nicola gerardi de leyd(en)“. Er wirkte wohl ab Ende der 1450er Jahre bis 1467 in Straßburg. Anschließend begab er sich auf Geheiß Kaiser Friedrichs III. an dessen Hof. Sein bedeutendster Auftrag war die Schaffung der aus Marmor gehauenen Deckplatte mit dem Kaiserbildnis des im Wiener Stephansdom aufgestellten monumentalen Grabmals Friedrichs. Gerhaert starb 1473 in Wiener Neustadt.

Die Schau beginnt mit der steinernen Büste eines Mannes (um 1463), bei der es sich möglicherweise um ein Selbstbildnis Gerhaerts handelt. Der geschraubt und gewunden aufsteigende Stein scheint sich zu regen. Der Kopf mit den verträumt geschlossenen Augen, um die feine Fältchen sichtbar sind, ist zur einen Schulter geneigt und in die Hand gestützt. Deren Finger drücken sich in die Wangen ein. Selbst eine Schläfenader tritt deutlich hervor. Diese phänomenale Behandlung der Hautpartien zeichnet auch das faltenreiche Kopffragment einer Prophetenbüste und das mit zartem Teint ausgestattete Kopffragment einer Sibyllenbüste (beide 1463) aus. Beide sind Überbleibsel des kurz nach der französischen Revolution zerstörten Straßburger Kanzleiportals. Einer populären Überlieferung zufolge stellen der alte Mann und die junge Frau ein skandalöses Pärchen dar. Es soll sich um Jakob von Lichtenberg, den Obervogt von Straßburg, und seine Mätresse, die schöne Bärbel von Ottenheim, handeln.

Kurator Roller weist hin auf Gerhaerts „bisweilen fast schon waghalsige Virtuosität im Umgang mit dem Material“. In der Grabanlage des Konrad von Busnang (1464) etwa, die den Geistlichen in Anbetung von Maria und dem Jesusknaben zeigt, scheint ein steinernes Spruchband frei zu schweben, das freilich von zwei schmalen rückwärtigen Stegen gehalten wird. Und am monumentalen Baden-Badener Kruzifix (1467), von dem ein Gipsabguss ausgestellt ist, scheint das Lendentuch an beiden Körperseiten der 230 Zentimeter hohen Christusfigur im Wind aufzuflattern.

Zu den Steinbildwerken gesellen sich zweifarbig gefasste Holzskulpturen vom Nördlinger Hochaltar (1462). In großem Bewegungsreichtum schiebt Maria Magdalena den Bauch raus, wirft sich in die linke Hüfte und legt den Kopf schief. Neben ihr löst Sankt Georg seine gefährliche Aufgabe mit geradezu tänzerischer Eleganz. Zierlich hat der mit goldener Rüstung angetane Heilige das linke Beine vorgesetzt, während er dem fauchenden Drachen seinen Schild in den Nacken stemmt.

Dass Gerhaert mit seinem neuartigen Konzept der „Skulptur als bewegtem Körper im Raum“, wie Kurator Roller das nennt, zur wegweisenden und für viele Jahrzehnte prägenden Künstlerpersönlichkeit aufstieg, veranschaulichen die im letzten Saal ausgestellten Arbeiten anderer Bildhauer. Mit tänzelnder Anmut präsentiert sich Michel Erharts steinerner Ritter vom Ulmer Fischkastenbrunnen (1482). Vor faltiger Lebendigkeit strotzen die von Hans Bilger von Worms geschaffenen, farbig gefassten Holzbüsten der vier Kirchenväter (1489–1496). Als Niclaus Gerhaerts bedeutendster Nachfolger aber gilt der mit einem kleinen Kruzifix (Laubholz, um 1495/1500) und einer großen Muttergottes mit zappeligem Jesuskind (Laubholz, um 1520) vertretene Veit Stoß. V.-M. Thiede

Bis 4. März im Liebieghaus, Schaumainkai 71, Frankfurt am Main. Informationen: Telefon (069) 6500490, Internet: www.liebieghaus.de. Eintritt: 9 Euro. Der Katalog aus dem Michael Imhof Verlag kostet im Museum 39,90 Euro, im Buchhandel 49,90 Euro


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