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04.02.12 / Das letzte Reservat der Hippies / La Gomera: Aus den 70er Jahren übriggebliebende Siedlung stemmt sich gegen den Wandel der Zeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-12 vom 04. Februar 2012

Das letzte Reservat der Hippies
La Gomera: Aus den 70er Jahren übriggebliebende Siedlung stemmt sich gegen den Wandel der Zeit

Leuchtende Augen bekamen in den 70er und 80er Jahren Hippies und Aussteiger jeder Art, die von La Gomera hörten – einer kanarischen Insel im südwestlichsten Zipfel Europas. Dort meinten Sinnsucher, Esoteriker, Kapitalismuskritiker und Gurus aller Art, das Gelobte Land gefunden zu haben. Der ewig warme Ort erschien den Aussteigern als das wahre Paradies. Doch die Bewohner des Paradieses sind in die Jahre gekommen.

Eigentlich ist die Insel La Gomera ein ziemlich unwirtlicher Felsen, der 1500 Meter steil aus dem Meer emporragt. Kolumbus füllte hier einst zum letzten Mal seine Wasservorräte auf, bevor er im Sommer 1492 nach Westen aufbrach, um Indien zu finden, und dabei Amerika entdeckte. Die der Zivilisation Müden, der „spießbürgerlichen Enge“, der Moral ihrer Eltern Entfliehenden, ließen sich am Ende des „Valle Gran Rey“ im Südwesten der Insel nieder. Benannt ist das Tal nach dem letzten Häuptling der Ureinwohner von La Gomera, die sich im 15. Jahrhundert den erobernden Spaniern entgegen stellten. Eigenhändig soll der „große“ König einst seinen ältesten Sohn erstochen haben, weil dieser vermeintlich mit den Eroberern gemeinsame Sache gemacht hatte.

Solcherlei kriegerisches Treiben war den Blumenkindern der 70er Jahre allerdings fremd. Sie wurden misstrauisch von der meist katholischen Bevölkerung des Tales beäugt, die sich mit Bananenanbau und Landwirtschaft mühsam ihren Lebensunterhalt verdiente. Ihre Moralvorstellungen passten nicht mit den Neuankömmlingen zusammen. Es kam nicht gut an, dass die Neuankömmlinge nackt im Meer badeten, sich einfache Bretterbuden zimmerten und/oder in Felsenhöhlen hausten, um der freien Liebe, dem Alkohol- und Drogenkonsum zu frönen.

Ein besonderes Ritual entwickelten die Aussteiger am steinigen Strand von La Gomera mit dem weiten Blick auf den unendlichen Horizont. Dort versammelte man sich abends zum Betrachten des Sonnenuntergangs. Einige schlugen die Trommel, andere tanzten oder bespielten eine Flöte. Bei Tanz, Wein und einer Flasche Bier, umwabert vom süßlichen Duft der Haschisch-Zigaretten, schaute man der untergehenden Sonne zu und erhoffte sich eine besondere Energieaufnahme.

Vor der „Casa Maria“, einem heute in die Jahre gekommenen Hotel, pflegen die mittlerweile altgewordenen Hippies, immer noch dieses Ritual. Auf einer Betonmauer sitzen 100 oder mehr Aussteiger, gekleidet in violette, orangene oder hellgrüne Schlabberkleidung, und erwarten immer noch neue Energie. Eine gewisse Melancholie liegt in der Luft, viele der Alt-Hippies sehen nicht gesund aus und klagen über das Vordringen der Zivilisation auf La Gomera.

Seit die Inselregierung, dank der reichen Subventionen aus den Kassen der Europäischen Union, eine Luxusstraße in das Tal der Hippies fertigstellte, ist nichts mehr so wie früher. Überall entstehen Ferienwohnungen und neue Luxushotels neben den Behausungen der Aussteiger. Auch die spanische Marine zeigte sich jüngst wenig rücksichtsvoll und veranstaltete ihre Schießübungen genau vor den Felshöhlen, wo die Aussteiger sich niedergelassen hatten.

Zudem macht das Alter ihnen zu schaffen. Die zotteligen und verfilzten Haare sind langsam grau geworden. Ohne Rente oder eine Krankenkasse lebt es sich auf der zu Spanien gehörenden Insel zunehmend beschwerlich. Und wovon leben sie überhaupt, fragen Touristen, die sich per Pauschalreise an diesem Ort ein wenig wie Verirrte fühlen? „Bauen Sie Gemüse an, halten Sie Hühner oder Ziegen zur Selbstversorgung“, fragte der Verfasser dieser Zeilen?

Regelmäßiges Arbeiten? Das ist eine anscheinend völlig abwegige Vorstellung, obwohl das ganzjährig warme Klima ideal für mehrere Ernten im Jahr wäre. Brachliegendes, fruchtbares Land und Wasser gibt es auch in Hülle und Fülle auf der Insel. Die meisten Aussteiger haben es aber vorgezogen, sich in einer Esoterik-Nische, als Reiseführer oder Kunsthandwerker einzurichten. Einige aus Deutschland ausgewanderte Frauen haben beispielsweise eine kleine Boutique aufgemacht, wo Kleidung, Hüte und Taschen in den bekannten Farben der Hippies verkauft werden. Touristen sind hier die besten Kunden.

Auch die Zunft der Schreiberlinge ist unter den Auswanderern vertreten. Im auf Deutsch erscheinenden „Valle-Bote“ schreibt ein bunter Club von ehemaligen und bärtigen Journalisten und Redakteuren, die hier ohne den üblichen Stress und Zeitdruck arbeiten wollen. Das Hochglanz-Magazin ist eine Art Zentralorgan aller Alt-Hippies und Aussteiger von La Gomera. In teils witziger oder selbstironischer Form beschreibt der „Valle-Bote“ das Leben der Aussteiger als „Greisverkehr der Schnabeltässler“. Doch soweit wollen es die meisten nicht kommen lassen. Kinder und Enkelkinder sind geboren worden; die Sonne wird, so die Hoffnungsvollen, im letzten Reservat der Hippies nicht so schnell endgültig untergehen. Hinrich E. Bues


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