25.04.2024

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25.02.12 / Ein Bett im Schutt / Fremder lebte in Ruinen des Elternhauses

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 08-12 vom 25. Februar 2012

Ein Bett im Schutt
Fremder lebte in Ruinen des Elternhauses

Langsam gehe ich durch das Haus. Ich bin sechs Jahre alt. Vor einigen Wochen sind Bomben gefallen. „Sie waren für die Kirche bestimmt, haben aber unser Haus getroffen“, sagte mein Vater später. Ein Glück, dass wir nebenan im Priesterseminar saßen, als die Hölle losging. Meine Eltern haben ihr Haus abgesucht, fanden aber nichts Brauchbares mehr. Alles verbrannt! Immer noch sehe ich meine Mutter weinend in den Trümmern hocken. Ihr ganzes Leben sei nun ein einziger Aschenhaufen, schluchzt sie. Vater tröstet sie: „Aber wir leben, die Kirche ist fast unversehrt und meine Orgel auch.“ Er ist Kirchenmusiker. Meine Eltern haben mich davor gewarnt, die Ruine wegen der Einsturzgefahr zu betreten, trotzdem bin ich hier und mein Herz klopft. Ich vermisse meine Puppe. Vielleicht liegt sie ja irgendwo unter dem Geröll. Lisa war das einzige Spielzeug, das ich besaß.

Vorsichtig gehe ich durch die Räume, vielmehr durch das, was noch stehen geblieben ist. Dieser penetrante Geruch nach Verbranntem! Der Flur ist nicht mehr da, ich gelange sofort in die Küche. Von dem Herd, Mutters ganzer Stolz, gibt es nur noch zusammengeschmolzenes Blech. Verkohlte Balken ragen wie dunkle Zeigefinger aus dem Schutt. Wenn ich aufschaue, ist der Himmel über mir. Meine Blicke durchsuchen jeden Winkel. Das Kinderzimmer erkenne ich an dem noch nicht ganz verkohlten Nachtschränkchen. In der oberen Schublade lag das silberne Kreuz, das mir Vater zum Geburtstag schenkte. Der Verlust des Schmuckes tut weh, aber meine Puppe ist mir wichtiger. Was ragt denn da vorne so merkwürdig gegrätscht aus dem Geröll? Das sind doch Beine. − Lisa! Behutsam ziehe ich meine Puppe heraus. Sie hat keine Arme und keine Kleider mehr und ihr Kopf ist zweimal eingedellt, sie sieht furchtbar aus, aber ich bin glücklich, dass ich sie wiederhabe. Ob man sie heil machen kann? Ein Windstoß bringt die schief in den Angeln hängende Haustür zum Schwingen. Sie ächzt und stöhnt bei jeder Bewegung wie in einem alten Gruselfilm. Ich drücke Lisa an mich und stolpere über den Schutt nach draußen und stoße mit einem Mann zusammen, dessen bunte Strickmütze viele Löcher aufweist; seine grauen Haare sprießen wie staubige Grashalme durch einen Maschendraht. „Pass doch auf!“ schimpft der Mann. „Was willst du hier? Du hast hier nichts zu suchen!“ Die Empörung lässt meine Stimme krächzen: „Das ist mein Haus! Ich habe vor kurzem noch hier gewohnt mit meinen Eltern!“

„Tja, euer Pech.“ Er zeigt kurz auf die Trümmer. „Das da ist gerade richtig für mich.“ Ich weiche vor ihm zurück. Sein Geruch dringt streng in meine Nase. Jetzt weiß ich auch, warum Decken in einer Ecke des Schlafzimmers liegen. Ich denke, dass der Mann sicher froh ist, einen halbwegs trockenen Platz gefunden zu haben. „Haben Sie Hunger?“ höre ich mich fragen, denn im Bauch des Mannes kollert es. Er nickt, sagt aber gleichzeitig unwirsch: „Na und?“ Er lässt mich stehen und verschwindet schnell in der Ruine..

Eine Stunde später stehe ich wieder vor unserem „Haus“, schleiche in die Küche zu dem wackeligen Tisch und lege mein Päckchen auf die sauber abgewischte Platte. Das „Oberlände“, ganz frisch noch und knusprig und duftend, wird sicher ein paar Tage reichen. Es stammt aus Mutters Einkaufskorb. Aus dem früheren Schlafzimmer dringt misstönend das Schnarchen des Mannes. „Sie können bleiben“, sage ich leise.  Gabriele Lins


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