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03.03.12 / Tickende ökologische Zeitbombe / Der Umweltschutz wird im Königsberger Gebiet stiefmütterlich behandelt – zwei neue »Ranglisten«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-12 vom 03. März 2012

Tickende ökologische Zeitbombe
Der Umweltschutz wird im Königsberger Gebiet stiefmütterlich behandelt – zwei neue »Ranglisten«

Russland ist um zwei „Ranglisten“ reicher. Die eine zeigt die 36 „Städte mit der höchsten Luftverschmutzung“, darunter erstmalig Moskau, das noch unter den Folgen der Brandkatastrophe im Jahre 2010 leidet. Die andere Liste enthält ein „ökologisches Rating“ von 83 Städten der Russischen Föderation, in dem Königsberg Platz 25 einnimmt. Die lokale Presse nennt das „ein ziemlich gutes Resultat“ und die Touristikunternehmen, allen voran „Jantarnaja Mozaika“ (Bernstein-Mosaik), sehen hier eine Bestätigung ihrer werbenden Lobeshymne „Warmes Meer, Sandstrände, mildes Klima, vielfältige Zerstreuung, reiches Ausflugsprogramm – was braucht man mehr für exzellente Erholung?“

Derartiges Lob ist weithin irreführend, denn das kleine Königsberger Gebiet – 15100 Quadratkilometer, 942000 Einwohner – ist keine Umweltschutzidylle. So etwas gibt es in der Russischen Föderation gar nicht. Vielmehr haben Jahrzehnte ökologischer Ignoranz immense Schäden hinterlassen, worunter Königsberg mehr als andere leidet. Durch die Luft und über die Ostsee gelangen fremde Schadstoffe hierher und potenzieren lokale Verschmutzungen. Die Rate der Tuberkuloseerkrankungen ist um 35 Prozent höher als in Russland, desgleichen andere Krankheiten, „besonders bei Kindern“, wie Experten des russischen „Ecolife“ klagen. Über die Hälfte der Einwohner muss Trinkwasser nutzen, das keiner Reinheitsnorm entspricht, weil Reinigungs­rea­gen­zien fehlen und das System der Wasserversorgung desolat ist. Die Flussläufe der Region sind durch ölhaltige Fabrikabwässer verschmutzt, die am Grunde von Memel und Pregel halbmeterdicke Schichten Giftschlamm ablagern. Die Hauptstadt Königsberg mit ihren 450000 Einwohnern „ist in Europa die einzige mit offener Kanalisation“, über die täglich 200000 Kubikmeter Abwässer in den Pregel fließen.

Jahrzehntelang war es Königsberger Vorzug, in einem „nemezkij dom“ (deutsches Haus) zu wohnen. Nun zerfällt der sogenannte „deutsche Häuserfonds aus Vorkriegszeiten“. Alte Wasserleitungen, seit nahezu 100 Jahren im Dienst, geben den Geist auf, aber Ersatz fehlt. Überall finden sich zahllose wilde Müllkippen, sogar im Naturschutzgebiet Kurische Nehrung. Auf den nicht mehr benötigten Truppenübungsplätzen des einstigen militärischen Sperrbezirks vergräbt man Giftmüll. Verfehlter, übermäßiger Einsatz von Kunstdünger verseucht fruchtbaren Boden. Häufige Waldbrände bewirken, dass das einstige „Land der dunklen Wälder“ nur noch zu 17 Prozent bewaldet ist, im benachbarten Litauen sind es 30, in Finnland gar 52 Prozent. Kompakte Waldbestände finden sich allein bei Lasdehnen [Krasnosnamensk], Preußisch Eylau [Bagrationowsk] und anderen Orten in Grenznähe.

Ganz Königsberg ist eine Öko-Wüstenei, aber die 140 Kilometer Ostseeküste sind besonders bedroht. So hat es die lokale Stati­stikbehörde ermittelt und darum drei Zonen erhöhter Schadstoffbelastung ausgewiesen: 1. Pillau [Baltijsk] und Umgebung, 2. Rauschen [Swetlogorsk] samt Palmnicken [Jantarnyj], Neukuhren [Pionerskij] und andere, 3. Cranz [Selenogradsk] samt der ganzen Kurischen Nehrung. In Rauschen ist ein Bernsteinkombinat der „aktivste Luftverschmutzer der Gegend“, dazu der Hafen Neukuhren mit seinen Werften und als Stützpunkt des Fischfangs.

Weiter im Landesinneren liegen Insterburg [Tschernjachowsk] und Gumbinnen [Gusew], die jährlich 2000 Tonnen Schadstoffe in die Luft pusten. An der innerostpreußischen Grenze zum Memelland soll in Ragnit [Neman] ein, wie es heißt, gigantisches Kernkraftwerk entstehen, sofern sich denn Russland über die Proteste von Litauen, Polen, Finnland und Belarus hinwegsetzt. Von Königsberger Protesten ist nichts zu hören: Dabei hätte die Region die größten Sorgen, beispielweise mit Atommüll oder einer eventuellen Verstrahlung des Kurischen Haffs.

Vergangenen Sommer, als die heutigen Bewohner Königsbergs und mit ihnen alle Russen unter dem Stopp der Lebensmittelimporte litten, erklärte Gouverneur Nikolaj Zukanow 2012 zum „Jahr des Gartenbauers“, in dem die Region ihre „Ernährungssicherheit“ und „Unabhängigkeit von Importen“ erlangen werde. Die Menschen vor Ort sehen eine andere Perspektive: „Wir leben in einer Abfalltonne, wo langsam die Natur stirbt, dann wir und am Ende unsere Kinder.“ Wolf Oschlies


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