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17.03.12 / Die Grande Nation und ihr schmutziger Krieg / Auch 50 Jahre nach dem Verlust Algeriens tun sich die Franzosen schwer mit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 11-12 vom 17. März 2012

Die Grande Nation und ihr schmutziger Krieg
Auch 50 Jahre nach dem Verlust Algeriens tun sich die Franzosen schwer mit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit

Vor 50 Jahren beendete Charles de Gaulle mit seiner Unterschrift unter das Abkommen von Evian den Algerienkrieg. Die unmenschliche Brutalität auf der Seite der französischen Kolonialmacht und der für die Unabhängigkeit Algeriens kämpfenden Nationalen Befreiungsfront (Front de Libération Nationale, FLN) wird bis heute tabuisiert.

„Ich bin sehr beeindruckt, wie die Deutschen mit ihrer Geschichte umgehen. Es braucht viel Kraft und Courage, seiner eigenen Vergangenheit in die Augen zu blicken, und das meine ich wirklich als Kompliment. Zumal Frankreich sich immer schwer damit getan hat, ob es der Zweite Weltkrieg ist oder unsere Kolonialgeschichte. Es ist uns ziemlich schwergefallen, zuzugeben, dass wir nicht immer die Grande Nation waren.“

Starke Worte von einer starken Frau. So liest Anne Sinclair, französische Journalistin und Ehefrau des mit allerlei pikanten Gegenwartsproblemen belasteten Dominique Strauss-Kahn, ihren vergangenheitsvergessenen Landsleuten im „WamS“-Gespräch mit Dagmar v. Taube die Leviten.

Die Kolonialgeschichte, die sie meint (und die in den Banlieues höchst gegenwärtig ist), fand ihren unrühmlichen Kulminationspunkt im Algerienkrieg. Die Region an der nordafrikanischen Gegenküste des französischen Midi war 1830 von den Truppen des Bürgerkönigs Louis-Philippe erobert und besetzt worden. Frankreichs nachrevolutionäre Bourgeoisie wollte im Konzert der Weltmächte weiter die erste Geige spielen. Das Motto „Enrichissez-vous“ (bereichert euch) bestimmte die Industrialisierungspolitik der Grande Nation ebenso wie ihre Außen-, sprich Kolonialisierungspolitik. Louis-Philippes Nachfolger Napoleon III. schuf 1848 vollendete Tatsachen: Die Kolonie Algerien wurde dem Mutterland als Departements Algier, Constantine und Oran einverleibt. 800000 Franzosen siedelten sich im sonnigen Süden südlich des Mittelmeeres an. Die neuen Herren des Landes genossen alle bürgerlichen und politischen Privilegien, die den acht Millionen Einheimischen verweigert wurden.

Die Illusion, dank der Einverleibung ins Mutterland neumodischen Entkolonialisierungs-Umtrieben widerstehen zu können, überdauerte den Zweiten Weltkrieg, in dessen Folge die Grande Nation in die zweite Reihe der Großmächte degradiert wurde. Aber nicht lange. Der algerische Widerstand gegen die französischen Okkupanten, organisiert in der Nationalen Befreiungsfront, eröffnete am 1. November 1954, dem sogenannten blutigen Allerheiligen (Toussaint sanglante) den bewaffneten Kampf. Paris verstärkte seine Truppen auf über 500000 Mann, darunter viele „kampferprobte“ Fremdenlegionäre, die nach der Niederlage von Dien Bien Phu und dem verlorenen Französischen Indochinakrieg neuen Einsätzen entgegenfieberten.

Die Regeln der Haager Landkriegsordnung wurden von beiden Seiten nicht respektiert. Der Partisanenkampf der FLN übertraf an Brutalität alles, was man im Zweiten Weltkrieg von Josip Broz Titos und Josef Stalins Untergrundkämpfern erlebt hatte.

Paris hielt dagegen: Massenverhaftungen, Folter, Hinrichtungen ohne Verfahren und Urteil: einer großen Kulturnation (grande nation culturelle) unwürdig. In den acht Jahren, die dieser schmutzige Krieg (guerra sucia) dauern sollte, wurden über 500000 Algerier ermordet; eine Diskussion, ob auch dies ein nicht zu leugnender Völkermord war, findet bis heute nicht statt. Obwohl – oder gerade weil? – den Franzosen Algerien doch näher liegt als Armenien.

Nicht etwa, dass die französischen Befehlshaber in Algerien die Verbrechen ihrer Truppen geschickt verborgen und verschleiert hätten. Wer wissen will, welche Untaten in diesem schmutzigen Krieg zwischen 1954 und 1962 von wem begangen wurden, kann auf belastbare und längst veröffentlichte Informationen zurückgreifen.

General Jacques Massu, Chef der berüchtigten Paras, und General Paul Aussaresses, Chef des militärischen Geheimdienstes, haben sich oft genug damit gebrüstet, dass allein in ihrem Verantwortungsbereich 3000 offiziell „verschwundene“ FLN-Kämpfer hingerichtet wurden, in 24 Fällen eigenhändig, alle anderen auf ihren Befehl.

Gefoltert wurde nicht klammheimlich, sondern mit ausdrück­licher Genehmigung des sozialistischen Ministerpräsidenten Guy Mollet, von der Nationalversammlung als „Sonderbehandlung“ und „verlängerte Verhöre“ sanktioniert.

Zu den Kriegstreibern auf französischer Seite zählte auch der damalige Innenminister, ein Sozialist namens François Mitterrand. Später, als Staatspräsident, wollte er davon nichts mehr wissen.

Auch Frankreichs Kommunisten, die sich wie ihre Gesinnungsgenossen in aller Welt bis heute gern als stramme Anti-Imperialisten verklären, unterstützten die Pariser Kolonialpolitik. Ihr legendärer Ober-Antifaschist Jacques Duclos, einst politischer Kopf der Résistance gegen die deutschen Besatzer, hatte 1956 weder moralische noch politische Bedenken, den von der Regierung geforderten Sondervollmachten in der Nationalversammlung zuzustimmen. Damit wurden unter anderem Untertauchen in kaltes Wasser oder Exkrementen, Vergewaltigungen und Elektroschocks legalisiert.

Die meisten der Generäle, die in Algerien für diese Verbrechen verantwortlich waren, hatten wenige Jahre zuvor an der Seite de Gaulles für die Befreiung Frankreichs von deutscher Besatzung gekämpft. Dass ausgerechnet ihr Idol, inzwischen Präsident der Fünften Republik, die Beendigung des Krieges gegen die FLN und die Ablösung Algeriens vom Mutterland betrieb, enttäuschte sie zutiefst. Vier von ihnen versuchten im April 1961, gegen de Gaulle zu putschen – ohne Erfolg. Elf Monate später, am 18. März 1962, beendete das Abkommen von Evian den Krieg, am 1. Juli votierten die Algerier mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit, am 3. Juli wurde der neue Staat von Paris anerkannt.

Wahrer innerer Frieden aber ist bis heute nicht eingekehrt. Das unabhängige Algerien wurde jahrzehntelang von Aufständen, Terrorakten und Bürgerkrieg heimgesucht. Zudem leiden südliche Regionen immer noch unter den Folgen französischer Atomwaffenversuche in der Sahara. Frankreich sah sich mit Millionen geflüchteter Siedler, Soldaten und der Kollaboration verdächtigter Muslime konfrontiert, die kaum in die französische Gesellschaft zu integrieren waren. Probleme, die zum Teil bis heute nicht gelöst sind, zum Teil wohl auch, weil die Wahrheit über dieses dunkle Kapitel der französischen Geschichte bis heute verdrängt wird.

Lassen wir noch einmal Anne Sinclair, Madame Strauss-Kahn, zu Wort kommen: „Menschen, die sich ihren Fehlern stellen können, machen ein Volk und ein Land stark.“ In diesem Sinne wünschen wir der Grande Nation etwas mehr Stärke.        Hans-Jürgen Mahlitz


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