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24.03.12 / »Hör mal ’n beten to« / Vor 125 Jahren kam Rudolf Kinau zur Welt – Erinnerungen an den großen niederdeutschen Schriftsteller von Ruth Geede

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 12-12 vom 24. März 2012

»Hör mal ’n beten to«
Vor 125 Jahren kam Rudolf Kinau zur Welt – Erinnerungen an den großen niederdeutschen Schriftsteller von Ruth Geede

Die Stadt Wuppertal hatte gerufen, und 32 Frauen und Männer waren gekommen, die sich laut Einladung „Dichter“ nennen durften. Genau genommen: niederdeutsche Dichter. Man schrieb das Jahre 1936, und die plattdeutsche Gegenwartsliteratur hatte vor allem durch den Rundfunk einen hohen Bekanntheitsgrad gewonnen und war in den regionalen Hörbereichen der norddeutschen Sender sehr beliebt. Das hatte wohl die Stadt Wuppertal veranlasst, einen Wettbewerb für die beste plattdeutsche Dichtung auszuloben. Sie gab ihm einen attraktiven Namen: „Der Goldene Spatz“. Das war zwar hochdeutsch, aber veredelte den grauen Straßenvogel, der wohl Bodenhaftung und Nesttreue symbolisieren sollte, ungemein. Diesen Spatz in der Hand zu halten, war nun wirklich besser als jede Edeltaube auf dem Dach.

Aber wer sollte ihn bekommen? Jedes norddeutsche Sprachgebiet zwischen Ems und Memel, in dem Plattdeutsch noch Alltagssprache war, hatte einen Vertreter der betreffenden Region zu wählen. Es gab weniger bekannte, aber auch große Namen, die sich längst in die niederdeutsche Literatur eingeschrieben hatten. Würden sie kommen, der Moritz Jahn, der Berend de Vries, der Rudolf Kinau?

Wir warteten gespannt, gegen wen wir literarische Neulinge antreten durften. Ja, das „wir“ betraf auch mich, denn man hatte mich als Vertreterin des ostpreußischen Platt, des Niederpreußischen, gewählt. Und ich war gerade mal 20 Jahre jung, hatte mein erstes plattdeutsches Märchenbuch herausgegeben und meine Meriten vor allem durch Hörspiele in Mundart erworben.

Sie kamen alle und füllten allein schon mit ihrer Präsenz den Saal. Als sie dann ihre eigenen Werke vorzutragen begannen, wurde einem bewusst, wie tief ihre Dichtung in der heimischen Sprachkultur verwurzelt war. Es wurden Sternstunden der niederdeutschen Literatur und man wusste, es würde der Jury schwer fallen, zu entscheiden, wer den „Goldenen Spatz“ in die Hand bekam.

Und doch ahnte man es schon, denn einer fiel aus dem Rahmen der zumeist älteren Vertreter, weil er seine eigenen Beiträge auf eine unnachahmliche Weise vortrug: Rudolf Kinau. Der damals fast 50-Jährige benötigte weder Buch noch Lesebrille, er sprach vollkommen frei, hoch aufgerichtet, die Hände auf das Pult gelegt. Er las wie aus einem unsichtbaren Buch ohne den geringsten Fehler, wenn man das Gesprochene mit dem Geschriebenen verglichen hätte. Seine hellen Augen unter dem weißen Haar aber fixierten nicht irgendeinen Punkt, sie wanderten von Zuhörer zu Zuhörer, banden sie in seine Erzählungen und Gedichte mit ein, die er in seinem ihm eigenen klaren Sprachstil vortrug, der das Niederdeutsche zu einer eigenen Kunstform erhob. In dieser Art des „Vertellens“ blieb Rudolf Kinau unübertroffen – hier in Wuppertal wie in den folgenden Jahrzehnten, die mit Lesungen, Rundfunkvorträgen, Schallplattenaufnahmen und natürlich mit dem Schreiben neuer Geschichten bis zum Rand gefüllt waren.

Natürlich gewann er damals den „Goldenen Spatz“ – und ich einen guten Freund der Feder, denn ich durfte nicht nur mit ihm zusammen im Kölner Sender sprechen, sondern auch auf weiteren literarischen Veranstaltungen. Wo wir uns später auch trafen, immer sprachen wir unser eigenes Platt und verstanden uns trotz der regional bedingten Unterschiede. Auch nach der Flucht aus Königsberg besuchte ich ihn in seinem schönen Haus auf der Halbinsel Finkenwerder und war Gast in seinem Familienkreis.

Hamburg-Finkenwerder – das war seine Heimat, aus ihr schöpfte er die Kraft für seine Erzählkunst, die ihm wohl schon in die Wiege gelegt worden war. Denn „Rudl“, wie er genannt wurde, war ein jüngerer Bruder von Gorch Fock, der eigentlich Johann Wilhelm Kinau hieß. Auch ein dritter Sohn des Seefischers Heinrich Kinau und seiner Ehefrau Metta Holst, Jakob Kinau, machte sich einen Namen als Erzähler.

Der am 23. März 1887 geborene Rudl kam erst auf Umwegen zum Schreiben, der Junge wurde Seefischer wie sein Vater, dann kam der Dienst bei der Marine, ehe er endgültig an Land blieb, zuerst als Schreiber, dann als Prokurist bei einer Hamburger Firma in der Fischauktionshalle. Aber da hatte er schon mit seinen schriftstellerischen Arbeiten begonnen. Sein erstes Buch „Achtern Diek“, 1916 geschrieben, widmete er seinem in jenem Jahr in der Skagerrakschlacht gefallenen Bruder Johann, der sich unter dem Pseudonym Gorch Fock in der niederdeutschen Dichtkunst einen großen Namen gemacht hatte, vor allem mit seinem Roman „Seefahrt tut not“. Aber während die Sprache des älteren Kinau kraftvoll, von farbenfroher Anschaulichkeit in seinen humorvollen wie ernsten Erzählungen war, wurde sein acht Jahre jüngerer Bruder der Meister der leisen Töne, der fein gezeichneten Cha­raktere, des verhaltenen Humors, der sich nie in derben „Döntjes“ verlor.

Das Missingsch, diese Mi­schung aus Hoch- und Plattdeutsch, lehnte er ab, er blieb seinem Niederdeutsch treu. Die meisten seiner 36 Bücher, die im Laufe seines langen Lebens entstanden, bewiesen das schon durch ihre Titel wie „Blinkfüer“, „Sünn in de Seils“, „Strandgoot“, um nur einige zu nennen; nur drei sind in Hochdeutsch gehalten. Dass er weit über Norddeutschland hinaus gelesen wurde, belegt die Gesamtauflage seiner Bücher, die zwei Millionen beträgt. Damit erwies sich Kinau als der meistgelesene niederdeutsche Autor seiner Zeit – nur Fritz Reuter hatte vor ihm eine ähnliche Auflagenhöhe seiner Werke erreicht.

Natürlich trug zu seiner Popularität das damals noch junge Medium Rundfunk bei, für das sein Vortragsstil geradezu geschaffen schien, wie schon seine ersten Sendungen aus dem Jahr 1924 bewiesen. In der NDR-Sendereihe „Hör mal ’n beten to“ hörten wirklich alle hin, die eingeschaltet hatten. Seine ruhige klare Stimme, die präzise Ausdrucksform, die dem gesprochenen Wort eine Transparenz verlieh, die auch den unkundigen Hörer in das Land „Achtern Diek“ führte, trugen zu der großen Beliebtheit dieser und ähnlicher Sendereihen bei.

50 Jahre lang schrieb und sprach Rudl Kinau seine Geschichten, Gedichte und Hörbilder, die Landschaft und Leben am Elbstrom spiegelten, sein Themenquell, der nie versiegte. Zu diesen rund 1200 Rundfunkbeiträgen kamen noch Bühnenstücke, Schallplattenaufnahmen und immer wieder Lesungen – so auch in Königsberg, wo er mich besuchte und ich ihm mein Land zeigen konnte.

Nach dem Krieg sahen wir uns wieder, er lud mich in sein Haus in Finkenwerder ein, in dem man die nie unterbrochene Verbundenheit mit seiner Heimat am Elbstrom und der See spürte. Ich lernte seine Familie kennen, seine erste Frau, auch die zweite, Mutter seiner beiden Kinder, die für ihn die eigentliche Erfüllung seines Lebens bedeuteten. Wir sahen uns auch auf vielen Veranstaltungen – eine Begegnung ist mir noch in Erinnerung geblieben:

Es war in der Lüneburger Heide, als ein Feriendorf für kinderreiche Familien eingeweiht wurde. Die kleinen Fachwerkhäuschen wurden nach norddeutschen Dichtern benannt – von längst verstorbenen wie Theodor Storm, Klaus Groth, Fritz Reuter, natürlich auch Gorch Fock – und da stand plötzlich Rudl vor mir, er zwinkerte mir mit seinen hellen Augen zu, zog die Nase kraus und flüsterte: „Kiek doch mol, jümmer bloß dote Dichters!“

Ich weiß nicht, ob nach seinem Tod am 19. November 1975 auch ein Haus nach ihm benannt wurde, aber Straßen tragen seinen Namen. Sein Kindheitsparadies ist längst zerstört, Finkenwerder wandelte sich zu einem krachigen Industrie­standort, aber der bewusst in der Gegenwart lebende Rudl sah ein, dass der idyllischen Halbinsel schon lange die alten Existenzgrundlagen entzogen waren. Aber wie es mal „bi uns an’n Diek“ zuging, hat er untrüglich bewahrt in seinem reichen Lebenswerk.


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