19.04.2024

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14.04.12 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 15-12 vom 14. April 2012

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,           
liebe Familienfreunde,

kaum ein Thema hat in letzter Zeit unsere Leserinnen und Leser so berührt wie „Der letzte Zug“ in Folge 9 auf unserer Familienseite. „Ich war auch dabei“, war der Tenor in den vielen Zuschriften, die wir erhielten, oft mit der Bitte, auch ihre Erinnerungen zu bringen. Sie sind für manche Vertriebene die gravierendsten Eindrücke von dem Fluchtweg, weil sie mit der Verunsicherung verbunden waren, die wir damals alle gespürt haben: „Kommen wir durch?“, war die entscheidende Frage, die nicht für alle die erhoffte Lösung brachte. Dieser quälende Zustand zwischen Hoffnung und Enttäuschung kam besonders in dem Beitrag von Dr. Detlef Arntzen „Der Brief meiner Mutter“ zum Ausdruck. Auf ihn bezieht sich die Zuschrift von Herrn Ingo Noes­ke aus Buchholz, mit der wir unsere Kolumne beginnen wollen, die heute allein diesem Thema gewidmet ist. Ingo Noeske erinnert sich an den Beginn der Flucht aus seinem Heimatort Trinkheim, Kreis Pr. Eylau, die er als Achtjähriger erlebte:

„Meines Erachtens sind wir auch am 22. Januar 1945 geflüchtet. Am frühen Morgen brachte unser Nachbar, Bauer Willamovius, unsere Mutter und uns drei Kinder – Ingo, Wolfgang und Heike – bei 18 Grad Kälte mit Pferd und Wagen zum Bahnhof Uderwangen. Einen Tag zuvor hatten Soldaten in unserer Schule Quartier bezogen. Erst am Abend holte uns ein Zug ab, der mit Soldaten vom Volkssturm gefüllt war und uns nach Königsberg mitnahm. Unser Vater holte uns auf dem Hauptbahnhof vom Zug ab und brachte uns sogleich in einen D-Zug Richtung Berlin, der wie im Beitrag von Detlef Arntzen beschrieben, Ostpreußen nicht mehr verlassen konnte. War es auch unser Zug? Wir müssen auch am 24. Januar zurück nach Königsberg gekommen sein. Übernachtet haben wir bei unserem Vater in einem Bunker.

Am nächsten Morgen brachte uns Vater mit einem Zug nach Pillau. Mit gezogener Pistole – ich war dabei – erhielt er von der Marine vier Schiffskarten für uns. Wir Flüchtlinge gingen an Bord der ,Pretoria‘, während unser Vater in die Festung Königsberg zurück-fuhr. Am 26. Januar verließ das Schiff Pillau in Richtung Stettin. Zuvor waren noch die Särge der Eheleute Hindenburg mit Fahnen und Standarten an Bord genommen. Von Stettin gelangten dann die Hindenburgsärge im nächtlichen Lkw-Transport nach Potsdam, wo sie im bombensicheren Bunker der Luftwaffenführung neben den Särgen Friedrich des Großen und des Soldatenkönigs Fried-rich Wilhelm I. vorläufig in Sicherheit waren. Wir fuhren dann mit einem kleinen Schiff nach Lübeck und von dort mit einem Personenzug nach Schwarzenbeck. Vom Bahnhof ging es dann auf einem mit Stroh gefüllten Leiterwagen nach Gut Wotersen. Der Ankunftstag war der 11. Februar 1945. Ein Brief unserer Mutter an unseren in der Festung Königsberg verbliebenen Vater ließ ihn wissen, dass wir alle gesund in Schleswig-Holstein angekommen waren. Unser Vater ging bald darauf in Dänemark in englische Gefangenschaft, aus der er am 14. Juli 1945 entlassen wurde.“

In diesem Fall kam der Zug also nicht mehr aus Ostpreußen heraus, die Flucht gelang erst – wie Detlef Arntzen es in seinem Beitrag schildert – über See. Wann und wie die letzten Züge über die Weichsel kamen und das – damals – rettende westliche Ufer erreichten, schildern mehrere Leser und Leserinnen, am ausführlichsten Frau Eva Siemokat aus Hannover:

„Der letzte Zug aus Königsberg – wie viel Erinnerung war auf einmal da – alles stand vor mir und war in mir. Nach meinen Überlegungen sind wir mit dem letzten Zug von Königsberg nach Berlin herausgekommen. Wir sind nämlich am 21. Januar 1945 um 22 Uhr vom Hauptbahnhof abgefahren. Meine Mutter ist mit meiner achtjährigen Schwester und mir, der 13-Jährigen, aus Bischofsburg am 20. Januar geflüchtet. Da die Verbindung zum Westen über Allenstein nicht mehr möglich war, sind wir nach Königsberg gefahren und kamen dort erst nach neunstündiger Fahrt am frühen Morgen an. Es war kein organisierter Flüchtlingszug sondern ein regulärer, der aber nur schrittweise fahren konnte wegen der Tieffliegergefahr. In Königsberg standen wir dann Stunde um Stunde auf dem Bahnsteig. Jeder Zug, der kam, war überfüllt und nahm keine Menschen mehr mit. Manche Züge hielten nicht einmal, sondern fuhren durch. Da die Menschenmenge immer größer wurde, setzte man einen D-Zug außer der Reihe nach Berlin ein. Der Zug wurde regelrecht gestürmt. Er muss so zwischen 20 und 22 Uhr abgefahren sein, war brechend voll und hielt an keinem Bahnhof. Durch welche Städte wir fuhren, weiß ich nicht mehr, es war ja dunkel, und jeder hoffte, noch rechtzeitig über die Weichsel zu kommen. Der Zug hielt immer wieder auf freier Strecke, weshalb und warum wusste kein Mensch. Wer keinen Sitzplatz ergattert hatte, musste die ganze Zeit stehen. Umfallen konnte man nicht, da wir wie die Heringe eingepresst waren. Unsere Marienburg habe ich nur schemenhaft in der Morgen- oder Abenddämmerung gesehen. Wir fuhren zwei Tage ohne Essen und Trinken. Ein paar Mutige sind immer beim Halt des Zuges auf freier Strecke durch das Fenster geklettert und haben uns mit Schnee versorgt. Am Dienstag kamen wir dann in Landsberg an und wurden auf dem Bahnhof von Rote-Kreuz-Schwestern mit einer heißen Suppe versorgt.“

Die Flucht über die Weichsel war also für die Familie Kulick geglückt. Aber damit hatte sie noch kein Ende gefunden und auch das geglaubte Endziel, Bad Buckow, wurde zwar erreicht, musste aber zehn Tage später wieder verlassen werden, weil der Russe vor Küstrin stand. Den einzigen Festpunkt, den die ostpreußische Familie hatte, war ein kleines Dorf in Ostwestfalen. Dorthin war ein Onkel von Eva nach seiner Ausbombung in Gelsenkirchen evakuiert worden, jetzt wurde es zur letzten Zuflucht für die Familie aus Bischofsburg. Eva Siemokat fand hier eine neue Heimstatt, nur „Heimat konnte es nicht werden, denn das ist und wird es bleiben, mein geliebtes Ostpreußen“, beendet sie ihren Bericht.

Ob sich damals die Wege von Eva Siemokat und Helga Lendzian vielleicht gekreuzt haben? Denn auch diese Leserin aus Erkrath fühlte sich veranlasst, ihre eigene Geschichte beizusteuern, und die beginnt ebenfalls in Bischofsburg, wo Helga ihren damaligen Verlobten – und späteren Ehemann – im Lazarett besucht hatte. Das Zusammensein wurde jäh unterbrochen durch die Auflösung des Lazaretts. Frau Lendzian berichtet: „Mein Freund vertraute mich einem in Westdeutschland wohnenden Hauptmann an, der wegen hohen Fiebers nach Hause reisen durfte. Ich wurde als dessen Cousine ausgegeben. Am Freitag, dem 19. Januar, erreichten wir mit dem Zug aus Bischofsburg den Königsberger Hauptbahnhof. In der überfüllten Bahnhofshalle trennten wir uns – ein ungeheurer Leichtsinn, denke ich heute. Am anderen Tag sollte ein Zug in Richtung Westen fahren. Ich übernachtete bei meinen Verwandten auf dem Hintertragheim. Am Morgen – die Straßenbahnen fuhren noch – trafen wir uns in dem wahnsinnigen Gewühl in der Bahnhofshalle tatsächlich an einem Zentralheizungskörper neben den Schaltern. Ich hatte offenbar einen Schutzengel! Wir stiegen am Sonntag, dem 22. Januar, in den noch verhältnismäßig leeren Zug. Es war wohl tatsächlich der letzte, der noch durchkam. Mein schwerkranker ,Cousin‘, sein Begleiter und ich bekamen ein Extraabteil. Der Zug fuhr tatsächlich los und fuhr Tag und Nacht und wieder Tag und Nacht immer weiter westwärts. Er hielt nicht mehr an den menschenvollen Bahnhöfen, weil er selber überfüllt war, dafür aber in tiefer Dunkelheit an einsamen Strecken. Ein gespenstisches Szenario: Auch in den Toiletten standen die Menschen Kopf an Kopf, sie waren unbenutzbar. Wenn der Zug im Nirgendwo hielt, sprangen notgedrungen die Menschen nach draußen, auch durch die Fenster, alle von der Todesangst verfolgt, im Niemandsland hocken zu bleiben, falls der Zug ohne Signal weiterführe. Mir läuft heute noch ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke. Irgendwann kamen wir tatsächlich in Berlin an, und ich trennte mich von meinem hochfiebrigen Beschützer. Es gelang mir, über das noch unzerstörte Dresden meinen Vater in Karlsbad zu erreichen, wo er als Schwerbeschädigter weilte und mich glücklich in die Arme schloss.“

Dankbarkeit spricht aus allen diesen Briefen, eine nie verloschene Dankbarkeit dafür, dass das Schicksal sie vor der Russenwalze verschont hat. Im Falle von Frau Anny Grothe aus Mannheim waren die russischen Panzer den Flüchtenden schon dicht auf den Fersen. Anny Grothe, geborene Meiritz aus Königsberg-Kalgen ist ebenfalls wie Herr Noeske am 22. Januar mit einem Zug aus Königsberg geflüchtet, aber ihr Transport kam durch, es scheint tatsächlich der letzte gewesen zu sein. Sie bestätigt die Aussage von Frau Rosemarie Kulikowski, dass ein Zug am 21. Januar nicht mehr durchkam und nach Königsberg zurück musste – wie auch von Detlef Arntzen im „Brief meiner Mutter“ geschildert –, denn der Russe war bei Elbing durchgebrochen und hatte die Verbindung zum Westen abgeschnitten. „Dann hat die deutsche Wehrmacht Elbing frei gekämpft und so war der Zug am 22. Januar, mit dem wir gefahren sind, wohl tatsächlich der letzte, der durchkam“, schreibt Frau Grothe. „Wenn ich so denke, wir Drei – meine Mutter, unsere Nachbarin und ich – haben großes Glück gehabt, dass wir den Russen nicht in die Hände gefallen sind. Wir hatten während der ganzen Zeit Angst, denn der Zug blieb oft auf offener Strecke stehen, und die Panzer hinter uns. Es war ein gespenstisches Bild, aber dann haben wir es doch geschafft!“

Über die Weichsel schaffte es auch Herr Professor Dr.-Ing. Gerd F. Kamiske aus Bad Gandersheim, damals ein 13-jähriger Junge, der mit Mutter, Schwester und einem Mädchen aus Schrombehnen in einem Zug saß, der am 21. Januar um 20 Uhr Königsberg verließ. Die nächste Zugabfahrt war für etwa 21 Uhr angesagt, es könnte der Zug gewesen sein, mit dem Frau Eva Siemokat herauskam. Gert Kamiske und seine Angehörigen hatten das Glück, dass sie in Dirschau von Verwandten seines Vaters aufgenommen wurden, und durften sich somit in Sicherheit wählen, wenn auch nur für kurze Zeit. Herr Prof. Dr. Kamiske gilt auch mein ganz persönlicher Dank: Er hat mir als Herausgeber der Dokumentation „20 große Ostpreußen“ eine große Freude gemacht, weil er auch mir und meiner Arbeit für meine Heimat Ostpreußen einen großen Platz einräumt. Und dabei natürlich auch unserer „Ostpreußischen Familie“ als nicht mehr wegzudenkendem Bestandteil unserer Zeitung. Auf eine andere Dokumentation gehen wir heute in unserem zweiten Beitrag ein. Sie zeigt den umgekehrten Weg auf: „Über die Weichsel“ ging es ostwärts – und das im Juni 1945!

Eure Ruth Geede


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