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21.04.12 / Übung und Achtung machen den Seemann / Von Jürgen Rath

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-12 vom 21. April 2012

Gastkommentar
Übung und Achtung machen den Seemann
Von Jürgen Rath

Am 7. November 2010 stürzt die Offizieranwärterin Sarah Seele aus dem Mast der „Gorch Fock“ und verletzt sich tödlich. Die Medien reagieren entsetzt, der damalige Verteidigungsminister auch, viel wurde und wird noch geschrieben. Der Wehrbeauftragte bemängelt in seinem kürzlich veröffentlichten Jahresbericht „Führungsdefizite und Sicherheitslücken“ auf dem Schiff. Die Untersuchungen hätten aufgedeckt, dass sich im Laufe der Zeit neben der vorgegebenen militärischen Hierarchie informelle Abhängigkeitsverhältnisse und Strukturen zwischen den Seekadetten, der Stammbesatzung und der Segelcrew herausgebildet hätten, die zu Spannungen und Konflikten an Bord geführt hätten. Darüber hinaus hätte es an Bord Traditionen gegeben, die nicht mit den Grundsätzen einer zeitgemäßen Menschenführung zu vereinbaren gewesen seien.

Doch auch der Bericht des Wehrbeauftragten klärt nicht alles. Es erhebt sich die Frage, warum es so unfallträchtig ist, in der Takelage zu arbeiten. Die Antwort: Weil es hoch hinauf geht, weil das Schiff schwankt, weil die Taue nass und rutschig sind. Und weil man oben auf einem dünnen, wippenden Seil steht und nur eine Hand zum Festhalten hat. Den alten Segelschiffskapitänen war durchaus bewusst, dass die Arbeit im Mast gefährlich ist, weshalb die Schiffsjungen auch erst in die Takelage steigen durften, wenn ihnen „Seebeine“ gewachsen waren, manchmal erst nach einem halben Jahr. Der Schiffsjunge Hans Blöss erzählt, wie er unter der Anleitung eines erfahrenen Matrosen im Jahre 1906 seine ersten ‚Gehversuche’ machte: „Am Abend ging ich still für mich in den Vormast hinauf. Langsam und vorsichtig stieg ich zur Vorroyalrahe. Jan war stehengeblieben und sagte zu mir aufschauend: ‚Hans, wenn du hier oben bist, sieh nur nicht mehr abwärts als nötig, dann schwindet das Angstgefühl. Wenn du deine Stellung im Mast veränderst, lasse es langsam und mit Überlegung vor sich gehen. Eine Hand gehört nur dem Schiff, die andere ist für dich.‘“

Auf den Segelschiffen der früheren Jahrhunderte stellte sich die Frage nach Schuld und Sühne nicht. Wenn ein Seemann aus dem Mast stürzte, war das Schicksal oder göttlicher Ratschluss. Doch mit dem Verschwinden der göttlichen Vorsehung aus dem Bewusstsein des modernen Menschen erhob sich die Frage nach der Verantwortlichkeit der Schiffsführung. Die seemännische Vorsicht, die den alten Kapitänen noch zu eigen war, beachtet man auf der „Gorch Fock“ ganz offensichtlich nicht. Die neuen Kadetten müssen in den Mast klettern, noch bevor sie sich mit den Gegebenheiten an Bord vertraut gemacht haben und bevor sie sich darüber klar werden können, ob sie überhaupt schwindelfrei sind. Doch warum befiehlt man jungen Männern und Frauen, in die Takelage zu steigen, und das bis zu viermal hintereinander, obwohl sie ungeübt sind und die Ausbilder ihre Leistungsfähigkeit noch nicht ausreichend abschätzen können?

Dafür gibt es mehrere Faktoren. Zum einen hat es sicherlich mit dem übersteigerten Männlichkeitskult in der Seefahrt zu tun. Da sind die „Fachleute“ an Bord, die gut ausgebildeten Seeleute, die Stammbesatzung. Und da sind die Neuen, das „Frischfleisch“, die Ahnungslosen. Wie in anderen gewerblichen Berufen unterzieht man auch an Bord von Seeschiffen die Neulinge einer besonderen Behandlung, um ihnen ihre untergeordnete Stellung klar zu machen. Schon möglich, dass die Stammmannschaft der „Gorch Fock“ den neuen Kadetten schnell klarmachen wollte, dass die Anforderungen an Bord eines Segelschiffs sehr hoch sind. Und da ist der militärische Drill. Wer bei der Bundeswehr war, der wird sich sicherlich ohne Probleme an Situationen in der Grundausbildung erinnern können, in denen die Vorgesetzten die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit austesteten.

Schließlich lässt da noch eine Sache aufhorchen. Der Wehrbeauftragte nimmt in seinem Bericht zur Kenntnis, dass „die originäre Aufgabe des Segelschulschiffs, nämlich die seemännische Ausbildung des Marinenachwuchses, wieder in den Vordergrund treten soll“. Moment mal! Kann ein Schulschiff noch eine andere Aufgabe haben, als Seeleute auszubilden? Kaum zu glauben, doch offensichtlich hat es abweichende Auffassungen gegeben. Anscheinend fühlte sich die Stammbesatzung durch die Anwesenheit der Kadetten gestört, weil sie auf diesem schönen, weißen Segelschiff es als ihre eigentliche Aufgabe ansah, im Ausland „Deutschlands Botschafter zur See“ zu sein.

Einen interessanten Aspekt hat der Autor einer Marine-Zeitschrift aufgeworfen, der sicherlich in den Köpfen vieler Männer rumort: Sind Frauen überhaupt in der Lage, die schwere Arbeit auf einem Segelschiff zu leisten? Oder, um es ganz drastisch auszudrücken: Gibt es ein geschlechtsspezifisches Tötungsrisiko bei der Arbeit in der Takelage? Gegen eine solche Vermutung spricht zunächst einmal, dass seit der Indienststellung der „Gorch Fock“ vier Seeleute aus den Masten stürzten – und drei davon waren Männer. Darüber hinaus ist wohl zu vermuten, dass Frauen grundsätzlich keinen Gen-Defekt haben, der sie für die Arbeit in großer Höhe untauglich macht. Für diese Vermutung spricht die Aussage der ehemaligen „Gorch-Fock“-Kadettin Bähr im „Marineportal“: „Wenn man ein paar Mal hoch und runtergeklettert ist, ist das kein Problem mehr.“ Auch zeigt der Hinweis des Matrosen im Jahre 1906, dass ihm als Mann die Höhenangst durchaus bekannt ist.

Aber wie ist es mit der schweren Arbeit in der Takelage eines Großseglers? Nicht umsonst waren die Seeleute der Segelschiffszeit muskelstrotzende Männer. Es war tatsächlich eine unsägliche Schinderei, bei Schnee und Eis stundenlang über der Rah zu hängen und dem Sturm jeden Zentimeter Segeltuch abzuringen, bis man es endlich geborgen hatte. Auf der „Gorch Fock“ geht es jedoch nicht wie in den Zeiten der alten P-Liner zu. Auf dem Fünfmast-Vollschiff „Preußen“ waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts insgesamt 48 Besatzungsmitglieder für 6800 Quadratmeter Segelfläche zuständig. Im Gegensatz dazu kommen auf der „Gorch Fock“ auf 220 Mann Besatzung nur 2000 Quadratmeter Segelfläche. Statistisch gesehen musste auf der „Preußen“ ein Matrose 140 Quadratmeter Segeltuch im wahrsten Sinne des Wortes im Griff haben, auf der „Gorch Fock“ sind es weniger als zehn Quadratmeter. Selbst wenn die Hälfte der Besatzung der „Gorch Fock“ an Deck, auf der Kommandobrücke, in der Kombüse und im Maschinenraum beschäftigt ist, dürfte die Arbeitsbelastung nicht so hoch sein, dass eine Frau sie nicht leisten könnte.

Doch zurück zu dem aktuellen Vorfall. Der gesunde Menschenverstand sagt dem Autor, dass eigentlich nur körperlich und psychisch belastbare Männer und Frauen für den Dienst auf der „Gorch Fock“ zugelassen werden dürften, die darüber hinaus auch schwindelfrei sind. Und da bin ich bei der Verantwortung des Kommandanten. Möglicherweise ist er guten Glaubens davon ausgegangen, dass ihm nur ausgesuchtes Personal geschickt wird, doch diese Vermutung konnte ihn nicht von seiner Aufsichtspflicht entbinden. Er hat sich jedoch offensichtlich nicht über den Leistungsstand der neuen Kadetten informiert und sie damit ohne Not einer großen Gefahr ausgesetzt.

Unumgänglich ist die jetzt angestrebte Verbesserung der Ausbildung durch eine längere Vorbereitung an Land, durch eine bessere Qualifikation der Ausbilder und durch das Aufstellen eines Übungsmastes auf dem Gelände der Marineschule. Mit Erstaunen nimmt der Autor zur Kenntnis, dass es diesen Mast bisher noch nicht gegeben hat, wo doch bereits vor 150 Jahren die Schiffsjungenschule Hamburg über eine solche Vorrichtung verfügte.

 

Jürgen Rath ging mit 16 Jahren als Schiffsjunge zur Seefahrt. Zehn Jahre später hatte er das Kapitänspatent in der Tasche – und blieb an Land. Er studierte Betriebswirtschaft und Soziologie in Hamburg und promovierte in Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Inzwischen hat er sich auf die Themen‚ Hafen, Schifffahrt, Küste spezialisiert und schreibt Sachbücher und Essays.


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