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21.04.12 / Das erlebte Elend vergaß er nie / Zum Sehen geboren, zum Zeichnen bestellt: Heinrich Zille hielt den Alltag der einfachen Leute fest

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 16-12 vom 21. April 2012

Das erlebte Elend vergaß er nie
Zum Sehen geboren, zum Zeichnen bestellt: Heinrich Zille hielt den Alltag der einfachen Leute fest

„Frohe Arbeit – ernster Wille! Mal en Schluck in de Destille! Und een bissken Killekille – Det hält munter! Heinrich Zille“. Mit diesem drolligen Vers garnierte der Berliner Milieu-Maler einmal ein Selbstporträt mit Staffelei. Mit leichtem Strich, wachem Auge für skurrile Typen und pittoreske Szenen fing der vom einfachen Volk geliebte „Pinsel-Heinrich“ das Berlin der ausgehenden Kaiserzeit und der Weimarer Reublik ein.

In letzter Zeit sind es vor allem Berichte über Südafrika, die Heinrich Zille erwähnen. So soll die erfolgreiche Oppositionspolitikerin Helen Zille, deren Eltern während der NS-Zeit nach Südafrika auswanderten, die Großnichte des Malers sein. Hein-Jörg Preetz-Zille, Gründer des Heinrich-Zille-Museums in Berlin und selber Urenkel des Künstlers, verneint dies jedoch. Zumindest die direkten Nachfahren des Künstlers sind recht überschaubar, da trotz drei eigener Kinder nur ein Enkelkind folgte. Dafür hinterließ der Künstler der Nachwelt zahlreiche Zeichnungen, die uns noch heute viel über das Berlin der Wilhelminischen Zeit und der Weimarer Republik verraten.

So zeigt ein Bild aus dem Jahr 1911 spielende Kinder im Berliner Tiergarten. Im Hintergrund sitzen zahlreiche Frauen mit weißen Hauben. Zille dokumentierte in dieser fröhlich anmutenden Zeichnung eine Berliner Mode. Nachdem nämlich der Kaiser Wilhelm II. seine Kinder von sorbischen Frauen aus dem Spreewald hatte pflegen lassen, gönnten sich viele wohlhabende Berliner Familien eine sorbische Amme.

Doch nicht alle Zeichnungen Zilles sind so prall voll Leben. Zille, der 1859 nahe Dresden geboren wurde, dessen überschuldete Familie aber 1867 auf der Suche nach Arbeit nach Berlin zog, erlebte dort die Schattenseiten der Industrialisierung und Gründerzeit. Auch wenn sein Vater bei Siemens & Halske Arbeit fand und er selbst als Lithograf bis zu seiner Entlassung 1907 30 Jahre als Festangestellter gut verdiente, vergaß er nie das Elend, das er in seiner Anfangszeit in Berlin erlebt hatte.

Seine Entlassung wird im Nachhinein als Glücksfall für die Nachwelt betrachtet, denn nun war Zille genötigt, sein Hobby zum Beruf zu machen. Und auch wenn Kaiser Wilhelm II. die „Rinnsteinkunst“ des Künstlers nicht goutierte, fand Zille in der liberalen Berliner Künstlerszene schnell hilfreiche Unterstützer wie Käthe Kollwitz und Max Liebermann, auf dessen Vorschlag Zille 1924 sogar in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen wurde. Seine Bücher wie „Kinder der Straße“ verkauften sich bestens und zahlreiche Zeitungen druck­ten seine Zeichnungen. Zille ging es also finanziell gut, obwohl seine Werke keineswegs schön, sondern dokumentarisch, keineswegs naturalistisch, aber dennoch wirklichkeitsnah waren. Der Maler war populär, was auch daran lag, dass er das Elend, das er sah, immer ein wenig frech-amüsant in Szene setzte, ohne seine Motive bloßzustellen.

Eines seiner Bilder zeigt eine Familie mit drei Kindern und einem Karren, der bis oben hin mit Hausrat bepackt ist, im Regen. Es trägt ironischerweise den Titel „Trockenwohner“. Ein Begriff, mit dem man heute nichts mehr anfangen kann. Doch es war um 1900 in Berlin nicht unüblich, fertiggestellte, aber noch feuchte Neubauwohnungen gegen eine geringe Miete oder kostenlos von armen Familien etwa drei Monate lang „trockenwohnen“ zu lassen, denn durch ihre Körperwärme beheizten sie die aus billigem Kalkmörtel hergestellten Wohnungen und sorgten so dafür, dass die Feuchtigkeit in den Wänden sich schneller verzog. Das ruinierte zwar langfristig die Gesundheit der „Trockenbewohner“, war aber für den Moment besser als die Obdachlosigkeit.

Andere Szenen von Zille zeigen, wie Busse Pferdedroschken überholen, Männer in Kneipen sich volllaufen lassen, Arbeiter sich in ihrer Gartenlaube erholen, alte Frauen oder blinde, beinamputierte Kriegsveteranen am Straßenrand betteln, Großfamilien in Einzimmerwohnungen vegetieren oder Kinderscharen die Hinterhöfe bevölkern. Im Gegensatz zu Käthe Kollwitz’ Zeichnungen sind Zilles Arbeiten jedoch lebensbejahend. Merkwürdigerweise sind selbst die Armen bei ihm dick­lich, während Kollwitz ausgemergelte Gestalten zeichnete.

Um 1900 war Berlin die am dichtesten besiedelte Großstadt. Die Menschen arbeiteten hier nicht nur in Schichten, sondern schliefen sogar in Schichten, da es damals in etwa dreimal mehr Menschen als Betten aufgrund des Wohnraummangels gab. Zudem teilten die Leute sich die Stadt oft mit Hühnern und Hasen. So zeichnete Zille auch in manchen seiner Hinterhofbilder das Kleinvieh samt Ställen ein, das den menschlichen Mietern zur Nahrung und zum Nebenverdienst diente.

Zille zeichnete auch daheim tätige Textilarbeiterinnen. Diese stellten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Massenphänomen dar. Etwa 100000 Heimarbeiterinnen be­schäftigte die Textilbranche damals. Eine andere Zeichnung von 1916 zeigt eine Mutter mit drei kleinen Kindern in einer engen Kellerwohnung, deren Blick auf einen Briefumschlag mit einem Eisernen Kreuz gerichtet ist. Der damalige Betrachter wusste sofort, dass er eine Kriegswitwe mit ihren Halbwaisen sah. Auch wussten die Menschen sofort, was die Berolina auf Zilles Bild „Weihnachtsmarktszene mit Berolina“ von 1904 war. 1896 wurde die Berolina-Statue auf dem Alexanderplatz aufgestellt. Sie war damals ein Zeichen des Lokalpatriotismus und erinnerte an den Sieg im Deutsch-Französischen Krieg. 1944 wurde die überdimensionale Dame aus Kupfer jedoch eingeschmolzen – für den gerade laufenden Krieg.       Rebecca Bellano

Weitere Informationen im Zille-Museum der Heinrich Zille Gesellschaft Berlin e.V., Propststraße 11, 10178 Berlin-Mitte oder in „Heinrich Zilles Berlin. Sein Milljöh in Zeichnungen und zeitgenössischen Fotografien“, Komet Verlag, Köln.


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