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19.05.12 / Heilkraft aus den Fadenwesen / Hohes therapeutisches Potenzial in Pilzen als medizinische Wirkstoffe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 20-12 vom 19. Mai 2012

Heilkraft aus den Fadenwesen
Hohes therapeutisches Potenzial in Pilzen als medizinische Wirkstoffe

Wir nehmen Pilze vornehmlich als Speisepilze wahr. Meist als Alltagskost, wie gezüchtete Champignons oder Austernpilze; als köstliches Herbstmahl gelten vielen frische Steinpilze; ein kulinarischer Höhepunkt ist unbestritten ein Gericht mit Trüffeln, Morcheln oder Kaiserlingen. Als Zersetzer des Mörtels am Haus ist uns der Hausschwamm ebenso lästig wie der elend juckende Fußpilz. Pilze begegnen uns als Einzeller in der Backhefe und in vielfältigsten Formen, Farben und Funktionen als unermüdliche Zersetzer in der Natur.

Es lohnt, einen Blick auf sie als Holz- und Restezersetzer zu werfen. Die Beobachtung dieser Vorgänge öffnete Wissenschaftlern diverser Disziplinen nämlich die Tür zu einem, so scheint es, hoch ertragreichen Markt. Dabei ist die Tür erst einen Spalt weit geöffnet. Es geht um Wirkstoffe von Pilzen und ihre Verwertbarkeit in der Pharmakologie.

Nähern wir uns dem Thema ganz naturnah an, indem wir uns eine gefräßige Raupe im Wald vorstellen. Sie frisst und frisst – und verschlingt auch eine winzige Pilzspore. Die sitzt nun in der Raupe und beginnt zu keimen. Natürlich würde die Raupe sie gerne loswerden. Doch sie beruhigt sich, denn: Die Pilzspore sendet an das Abwehrsystem der Raupe einen Stoff, der ihm signalisiert: Keine Angst, ich tu dir nichts. Einverstanden, reagiert die Raupe. Worauf die Spore einen Pilzfaden in die Raupe legt. Die frisst weiter und sucht sich bald ein geschütztes Plätzchen, um sich in Ruhe verpuppen zu können.

Nun naht die Stunde des „Raupenpilzes“. Genau dann, wenn sich die Puppe zum Schmetterling verwandeln will, beginnen sich seine Enzyme durch die Puppe zu fressen. Sie hüllen sie vollends aus, zersetzen sie. Es wird keinen Schmetterling geben. Stattdessen bildet der Pilz nun bald seine Fruchtkörper an den Hüllresten und dem Substrat, in dem die Raupe liegt, um seinerseits Millionen von Sporen bilden zu können.

Der Pilz, der dies schafft, ist die Puppenkernkeule, lateinisch Cordyceps militaris. Wissenschaftler interessierten sich für den Botenstoff, der das Immunsystem der Raupe zu überlisten vermag. Sie hatten schon eine Ahnung, eine Zielsetzung – und siehe da: Inzwischen wird dieser Stoff unter dem Namen Cyclosporin dazu verwendet, bei Menschen, die ein fremdes Organ eingepflanzt bekommen, das Immunsystem zu unterdrücken, damit das fremde Organ nicht abgestoßen wird. Cyclosporin ist ein sogenanntes Immunsuppressivum, das bei Organtransplantationen und bei Autoimmunkrankheiten eingesetzt wird.

Heinrich Holzer beschreibt die kleine Raupenpilzgeschichte in seinem wunderbaren Buch „Fadenwesen. Fabelhafte Pilz­welt“, Freyung 2011 (Edition Lichtland). Das Buch ist deshalb wunderbar, weil es Pilze nicht nur in fantastischen Bildern, sondern aus bislang weitgehend vernachlässigten Blick­winkeln zeigt: Pilze mit ihrer Mammutleistung für die Ökologie unseres Planeten, Pilze als Lieferanten medizinischer Wirkstoffe beziehungsweise als Lieferanten von Vorlagen für synthetisch hergestellte Wirkstoffe.

Der aus dem Gemeinen Schwarzborstling (Pseudoplectania nigrella), ein unscheinbarer Frühlingspilz, isolierte Wirkstoff Plectasin könnte schon bald einen ähnlichen Siegeszug durch Kliniken und Krankenhäuser antreten. Als Wissenschaftler der Pharmaindustrie den Stoff näher unter die Lupe nahmen, fanden sie heraus: Plectasin wirkt 200-mal stärker antibiotisch als das derzeit stärkste Antibiotikum auf dem Markt. Seine chemische Formel liegt abseits der traditionellen Antibiotika; gegen Plectasin sind bislang noch keine Resistenzbildungen aufgetreten. Das Mittel wird derzeit von einem französischen Pharma-Konzern klinisch erprobt. Es wird als Stoff mit hohem therapeutischem Potenzial eingestuft.

Gleich zwei Wirkstoffe aus einem Pilz haben es auf dem Weltmarkt inzwischen zu millionenschweren Umsätzen gebracht: Es sind aus der Schmetterlingstramete isolierte Zuckerverbindungen, die unter den Formeln PSK und PSP firmieren. Die zwei Polysaccharidverbindungen, bei deren zweiter den Zuckermolekülen noch ein kleines Peptid, also eine Eiweißeinheit, angebunden ist, bringen es in dem Medikament Krestin zu weltweitem Einsatz in der Krebs- und Tumorbekämpfung. Krestin erzielt Hunderte Millionen Dollar beziehungsweise Euro Umsatz pro Jahr. Womit ein ganz unscheinbarer, auch in Deutschland weitverbreiteter Pilz größte Bedeutung erlangte.

Der kalifornische Heilpilz- und Wirkstoffexperte Christopher Hobbs kaut die Schmetterlingstramete während seiner Pilzgänge gerne frisch gepflückt wie einen Kaugummi. Dies mag als naiv anmutende natürliche Krebsvorsorge und Immunstärkung belächelt werden; indes, es ist viel mehr, stellt der Biologe damit doch die ganz unbegründete, jahrhunderte währende westliche Scheu gegenüber Pilzen und ihren Heilstoffen provokativ zur Schau und Diskussion. Tatsächlich wurde Krestin von der japanischen Firma Kureha Chemical Industry (Tokio) entwickelt. Während die Erforschung und Anwendung von Pilz­wirk­stoffen in Südostasien eine durchgehend jahrtausendalte Tradition hat, erwachte sie im Abendland und überhaupt in der westlichen Hemisphäre erst in den 1970er Jahren.

Nach 40 Jahren Forschung ist man heute weiter: „Pilze sind kleine chemische Laboratorien und sorgen immer wieder für sensationelle Überraschungen“, heißt es im „Umwelt-Spezial ‚Rote Liste gefährdeter Großpilze Bayerns‘“ des Bayerischen Landesamtes für Umwelt, 2009.

Eine weitreichende Entdeckung gelang zwei Vätern der Wirkstoffforschung von Pilzen in Deutschland, Timm Anke (Kaiserslautern) und Wolfgang Steglich (Bonn, München). Anke hatte Mitte der 70er Jahre die fungizide (pilzwachstumshemmende) Wirkung von Inhaltsstoffen des Bitteren Kiefernzapfenrüb­lings entdeckt. Tatsächlich wehrt der Kiefernzapfenrübling mit Hilfe des Strobilurins erfolgreich Nahrungskonkurrenten ab. Steglich gelang es bald darauf, die chemische Struktur des Strobilurin A zu ermitteln. Nachdem die Photoresistenz der im Sonnenlicht sich rasch zersetzenden natürlichen Strobilurine im Labor entscheidend verstärkt worden war, konnte die so modifizierte synthetische Kopie ihren Siegeszug um die Welt antreten. Der Wirkstoff unterdrückt schädliche pilzliche Sporenkeimung, stärkt die Immunkräfte der Pflanze und steigert ihre Leistungsfähigkeit. Das BASF-Pflanzenschutzmittel F500 ist ein chemisch hergestelltes Methoxy-Acrylat, das auf dem von Anke entdeck­ten Wirkstoff basiert. Es ist für Mensch und Tier ungiftig. Erwähnenswert ist, dass die Patent- und Markenanmeldung unmittelbar vor der englischen Konkurrenz gelang.

Ein Schüler von Steglich in München war Norbert Arnold. Aufgrund guter labortechnischer Bedingungen wechselte er nach Halle/Saale an das dortige Leibniz-Institut für Pflanzenbiochemie. Bei seinen Pilzwanderungen im Harz fiel dem Pilzliebhaber Arnold auf: Eine Gruppe von Pilzen, nämlich die Schnecklinge aus der Gattung Hygrophorus, waren nie von Schneckenfraß versehrt. Auch gegen Parasiten und Krankheitserreger schienen sie immun zu sein.

Arnold begann, die Inhaltsstoffe von Schnecklingen zu isolieren und hinsichtlich ihrer Fähigkeiten zu überprüfen. Die Untersuchungen ergaben: Schnecklinge enthalten nicht nur Substanzen gegen parasitische Pilze, sondern sie produzieren auch Stoffe gegen Bakterien, sogenannte Hygrophorone. Erfreulicherweise sind sie besonders gegen Staphylococcus aureus aktiv, also gegen genau jenen Eitererreger, mit dem Krankenhäuser so sehr zu kämpfen haben.

Für die Entwicklung neuer Medikamente zur Bekämpfung multiresistenter Bakterienstämme sind die aus den Schnecklingen isolierten Stoffe deshalb besonders interessant. „Viele der synthetisch hergestellten Antibiotika sind nur Modifizierungen bereits vorhandener Stoffe“, so Arnold. Meist würden diese Giftstoffe für die besonders mutationsfreudigen multiresistenten Bakterienstämme „keine große Hürde“ mehr bedeuten. „Deshalb wird es immer lohnenswerter, in der Natur nach Wirkstoffen zu suchen, die sich in ihrer Struktur grundlegend von bereits eingesetzten Antibiotika unterscheiden. Unsere Hygrophorone sind gute Kandidaten dafür.“ 2004 wurden diese Wirkstoffgruppe zum Patent angemeldet.

Und 2009 meldete Arnold ein weiteres Patent an. Er hatte aus „seinen“ Schnecklingen noch eine Substanz isolieren können, die stark antibiotisch gegen den berüchtigten Erreger der Kraut- und Knollenfäule in Kartoffeln wirkt. Das angemeldete Mittel könnte eine zukunftsweisende Leitstruktur für die Entwicklung neuer Agrochemikalien werden. Heinz-Wilhelm Bertram


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