23.04.2024

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26.05.12 / »Papa war da« / Unfallopfer Lilly lebt in eigener Welt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 21-12 vom 26. Mai 2012

»Papa war da«
Unfallopfer Lilly lebt in eigener Welt

Ein kleines Haus am Stadtrand. Vor den Fenstern blühen Geranien, Bäume beugen sich mit ihren dichten Kronen beschützend über das rote Dach. Hier wohnt Lilly mit ihrer Mutter. Alle Leute, die sie kennen, lieben sie. Vielleicht, weil sie so zierlich ist. Und schöne, große Augen hat, die wie zwei blaue Seen unter hellen Bögen leuchten. Blonde Haare fließen um ihr Gesicht. Wenn es warm ist, sitzt Lilly am Fenster und spielt Flöte. Töne wie das Zirpen von Meisen perlen aus dem schmalen Instrument; zart und leise und hell wie eine feine kleine Glocke. Keine geregelte Melodie ist das, aber ein Suchen und Finden, ein Schrei nach Liebe.

Vor zwei Jahren war die Familie noch zusammen. Bis Albert Singer sein Auto zu Schrott fuhr. Im Wagen saßen die Kinder der Singers, Andreas, der Sohn, und Lilly, die sechzehnjährige Tochter. Vater und Sohn waren sofort tot, Mutter und Tochter überlebten. Seitdem ist das Mädchen ein wenig wirr im Kopf.

Elsa, die Mutter, war monatelang nicht ansprechbar, doch dann rappelte sie sich auf und versuchte ihr Leben und das der Tochter zu meistern. Den halben Tag sitzt sie im Kaufhaus an der Kasse; am Nachmittag geht sie putzen. Lilly erledigt leichte Arbeiten im Haus. Danach setzt sie sich mit der Flöte ans Fenster. Manchmal blicken die vorübergehenden Leute zu ihr hinauf und lächeln ihr zu. Lilly merkt es nicht; sie ist in ihre Träume versunken. – Heute sitzt sie wieder am Fenster und spielt Flöte. Ein Mann kommt herein, setzt sich hin und hört ihr zu. Plötzlich steht er auf, streicht ihr über das blonde Haar und küsst sie auf die Wange. „Papa?“ ruft Lilly. Der Mann eilt hinaus. Lilly hat nun ein Geheimnis. Jetzt weiß sie, ihr Vater wird sie immer beschützen. „Gott ist mit den Schwachen“, sagt die Nachbarin zur Mutter und Lilly lacht: „Der Papa hat mich besucht.“ Gabriele Lins


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