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02.06.12 / Das Überleben gesucht und geschafft / Treffen der »Königsberger Kinder« im Ostheim

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-12 vom 02. Juni 2012

Das Überleben gesucht und geschafft
Treffen der »Königsberger Kinder« im Ostheim

Es war nur ein kleiner Kreis von Frauen und Männern im Seniorenalter, der sich an einem Mai-Wochenende im Ostheim in Bad Pyrmont zusammenfand, aber er war groß genug, um dieses Treffen für die 18 Teilnehmer zu einem emotionalen, nachhaltigen Erlebnis werden zu lassen. Denn es handelte sich um die damals jüngsten zurückgebliebenen Deutschen in und um Königsberg, die alleingelassen in der von den Russen eroberten Stadt vegetierten, weil die Eltern, Geschwister und andere Angehörige ermordet, anderweitig verstorben, verschleppt oder einfach aus ihrem Lebenskreis verschwunden waren. Kleine verängstigte, hungernde, kränkelnde Geschöpfe, die zwischen 1945 und 1948 das Überleben versuchten und es auch schafften. Wir haben oft über diesen individuellen Kreis berichtet, der sich ohne Zwänge zusammenfindet, um gemeinsam das Erlebte aufzuarbeiten, und werden es auch weiter tun, denn was damals nach der russischen Okkupation mit diesen Kindern geschah, ist weitgehend unbekannt. Selbst Pfarrer Ulrich Franz aus Bad Pyrmont/Holzhausen, der eine kleine Gedenkfeier hielt, brachte zum Ausdruck, dass ihm bisher das Schicksal dieser Königsberger Kinder, das erlebte Leid und die Grausamkeiten nicht bekannt waren und ihn tief beeindruckten. Und so wollen wir aus dem selber gestalteten Programm, in dem das Themenfeld „Individuelles Erlebte, Vertreibung und die damit verbundene Rechtmäßigkeit“ fleißig beackert wurde – vor allem von dem niederländischen Völkerrechtler Dr. Frans du Buy –, den ersten Komplex herausnehmen, denn niemand kann das Geschehene authentischer wiedergeben als jene, die es am eigenen Leib und eigener Seele ertragen muss­ten. Wir entnehmen aus den von Frau Edith Matthes, Glauchau, auf dem Treffen vorgetragenen Ausführungen einige Stellen, die Einblick in den Überlebenskampf der Kinder gewähren, aber auch die Wichtigkeit dieses Treffens für die „Königsberger Kinder“ beweisen.

„Nur ein Bruchteil unseres langen Lebens war jener Zeit vorbehalten, da wir in das entsetzliche Kriegs- und Nachkriegsgeschehen in Ostpreußen geworfen wurden. Wir waren Kinder, hilflos, angsterfüllt, ausgeliefert und mit einem Geschehen konfrontiert, das wir nicht begreifen konnten, das uns aber ein ganzes Leben lang prägte. Wir hatten den Tod der nächsten Angehörigen erlebt, erlitten körperliche und seelische Verletzungen, litten unter quälendem Hunger und spürten das totale Verlassenheitsgefühl, permanente Angst und bedrückende Obdachlosigkeit. Wir gehören zu den Überlebenden, und doch mischt sich in die Dankbarkeit für das Überleben immer noch Schmerz und Trauer über die Verluste. Das Gespräch hier in unserem Kreis bringt Erinnerung und Gedenken. Letzteres aber in wohltuender und tröstlicher Weise, weil wir aneinander die Narben der Verletzungen erkennen, die uns das Schicksal geschlagen hat, und am Lebensbild des anderen meinen, ein Stück jenes Weges miteinander gegangen zu sein. Und es gab in der Tat jene Sternstunden für manchen von uns, nach Jahren Weggefährten zu finden, mit denen man gemeinsam eine Zeit im Kinderhaus verbracht hatte, mit denen man Erinnerungen tauschen konnte, eigene Erfahrungen bestätigt fand und auf manche offene Frage eine Antwort bekam.

Bei der Ausreise aus Königsberg wurden 4760 Kinderhausinsassen registriert. Beim Transport war man mit den vertrauten Gefährten noch zusammen, bei der Verteilung in die unterschiedlichen Quarantänelager wurde schon nach Alter und Geschlecht sortiert, und so fand man sich bald wieder allein und ohne den vermeintlichen Schutz in der Gruppe. Die Erwachsenen hatten immer von „heim ins Reich“ gesprochen, besaßen auch zumeist Adressen und Anlaufpunkte. Wir Waisenkinder waren aber eigentlich nicht angekommen im heute verstandenen Sinne. Wir waren bettelarm, unmündig, unwissend. So ratlos, wie die russischen Behörden in jenen Jahren dem sich ständig vergrößernden Potenzial der verwaisten Kinder gegenüberstanden, so überfordert waren nun auch im Nachkriegsdeutschland 1947 die Jugendämter, Kinderheime, Schulen und die Berufslenkung. Und wieder waren wir auf andere Art ausgeliefert. Hier herrschten Bedingungen, auf die man nicht vorbereitet war, am wenigsten wir Kinder. Die hinter uns liegende Zeit hatte uns geprägt. Was uns im Elternhaus anerzogen wurde, war verloren. Über viel zu lange Zeit hatte der Hunger unser Handeln diktiert.“

Mit dem Ende der Quarantänezeit brachen dann schließlich auch die Bindungen untereinander ab und ganz unterschiedlich waren die Wege, die – selbst gewählt oder von anderen geführt oder gedrängt oder angeordnet – die Mensch­werdung zum Ziel hatten. Aber jeder der zu diesem Kreis Gehörenden – einige waren aus gesundheitlichen Gründen leider nicht zum Treffen gekommen – hat seinen Weg gefunden. „Wir fanden Erfüllung im Beruf und standen irgendwann in einer Reihe mit den anderen, die nicht ahnten, welche Vorgeschichte uns belastete und welche Hürden wir nehmen muss­ten, um ans Ziel zu gelangen“, beendete Edith Matthes ihre Ausführungen zu Beginn des dreitägigen Treffens. Sie zeigten auf, wie wichtig solche „Sternstunden“ in harmonischer Runde für die ehemaligen „Königsberger Kinder“ sind. Kein Wunder: Das nächste Treffen ist schon geplant! R.G.


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