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02.06.12 / Willkommen bei den Geordies / Vom hässlichen Gruben-Entlein Nordenglands zum schönen Kultur-Schwan: Ein Besuch in Newcastle an der Tyne

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-12 vom 02. Juni 2012

Willkommen bei den Geordies
Vom hässlichen Gruben-Entlein Nordenglands zum schönen Kultur-Schwan: Ein Besuch in Newcastle an der Tyne

An ihrer Stelle stand einst eine der römischen Festungen entlang des Hadrianswalles. Ihre Kohlegruben wurden seit dem 13. Jahrhundert ausgebeutet. Die englische Redewendung „Carry Coals to Newcastle“ zeugt noch von der Existenzgrundlage der nordenglischen Stadt. Der schwarze Ruß ist heute abgewaschen, die Stadt präsentiert sich frisch und sauber den Touristen.

Auf die Minute genau um 17.30 Uhr sticht die Fähre „Princess of Norway“ im Hafen von Amsterdam in See mit dem Ziel Newcastle upon Tyne. Ein munteres Völkchen tummelt sich an Bord – Studenten, Schüler und Touristen aller Altersklassen aus Deutschland und Skandinavien, darunter Briten, die von einem ausgedehnten Wochenende in den Niederlanden nach Hause zurückkehren. Etwas erstaunt seien sie schon über den Zustrom vom „Kontinent“, erklärt ein junger Mann in dem ausgeprägt breiten Akzent der „Geordies“, wie der Volksmund die Bewohner von Tyneside im Nordosten Englands nennt. Newcastle sei zwar eine sehenswerte Stadt, das Klima jedoch gewöhnungsbedürftig. „Aber der Regen hält uns alle jung und frisch“, fügt er in britischer Selbstironie hinzu.

Entgegen dieser düsteren Prophezeiung landet der Reisende am nächsten Morgen bei strahlendem Sonnenschein im Hafen von Newcastle-Gateshead. Ein azurblauer Himmel wölbt sich über der Stadt, dem ehemals schmutzigsten Kohlerevier Großbritanniens! Die Stadt ist heute blitzsauber. Das gelang, wie der Fremdenführer Alex stolz berichtet, bereits 20 Jahre, bevor das Ruhrgebiet saniert wurde. Gleich nachdem die Kohlegruben geschlossen waren, erhielt die Stadt ein aufwendiges „Facelifting“. So verwandelte sich das einst hässliche Entlein innerhalb kurzer Zeit in einen makellos schönen Schwan. Die Fassaden der im georgianischen und viktorianischen Stil errichteten Gebäude wurden gründlich gereinigt und originalgetreu restauriert. Zudem wachen die Stadtväter akribisch darüber, dass kein Graffiti jene strahlende Pracht verunziert, die gar zu lange unter dem fettigen schwarzen Kohleruß verborgen gelegen hatte.

Newcastle upon Tyne, vor über 2000 Jahren von den Römern als Pons Aelius gegründet und später von Robert, dem ältesten Sohn von Wilhelm dem Eroberer, in Newcastle (Neue Burg) umgetauft, atmet Geschichte. Der unter Imperator Hadrian im 2. Jahrhundert v. Chr. begonnene Limes gleichen Namens ist noch überall sichtbar und teilweise in seiner Originalform erhalten. Er wurde in erster Linie als Schutzwall gegen die kriegerischen Pikten aus dem schottischen Hochland erbaut und zählt heute zu den größten touristischen Attraktionen der Region. 1987 wurde er zum Unesco-Weltkulturerbe erhoben. Auch die prächtige gotische Kathedrale aus dem 14. Jahrhundert, die imposante Guildhall und die nahe gelegenen Schlösser und Burgen sind Zeugen einer glorreichen Vergangenheit.

Wohl nirgendwo im Vereinigten Königreich verschmelzen Geschichte und Moderne so nahtlos zu einer unvergleichlichen Synthese wie hier. Wer am Fluss entlang schlendert, weiß nicht, welchem architektonischen Kunstwerk er zuerst seine Aufmerksamkeit schenken soll: dem wie das Innere einer Ohrmuschel vom Stararchitekten Lord Norman Foster geformten gigantischen ultramodernen Musik- und Konferenzzentrum, in dem selbst die Sitze klimatisiert sind, oder der kühn geschwungenen Gateshead Millennium Bridge, die an ein offenes Auge erinnert. Doch auch die gegen Ende des 19. Jahrhunderts erbaute Swing Bridge und die elegante Tyne Bridge aus dem Jahr 1928 sind echte Hingucker.

„Obgleich Newcastle mit knapp 200000 Einwohnern eine relativ kleine Stadt ist, rangiert sie in puncto Kultur gleich hinter London“, erklärt Alex. „Die Geordies sind eben Leute mit Ideen und Köpfen, die alles durchsetzen“, fügt er stolz hinzu und erklärt auch gleich, warum die Menschen in Tyneside Geordies genannt werden. Während der Jakobiteraufstände Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts stellten sich die Bürger spontan auf die Seite des neuen protestantischen Königs George, was ihnen von den Anhängern des katholischen Königs Jakob den empörten Ausruf einbrachte: „Seid ihr noch zu retten, ihr blöden Geordies.“ Unerschütterliche Loyalität gehöre zu den prägendsten Eigenschaften der Menschen dieser Region, erzählt Alex.

Mehrere Theater gibt es in der Stadt, in denen regelmäßig die legendäre Royal Shakespeare Company gastiert, eine ehemalige Keksfabrik beherbergt heute eine Kunstgalerie vom Allerfeinsten, die inzwischen Weltruhm genießt. Bei der Aufzählung so vieler Superlative bleibt dem Gast schier die Luft weg. Auch Earl Grey – ehemaliger britischer Premierminister unter König William IV., nach welchem der Tee mit dem betörenden Bergamottearoma benannt wurde – stammt aus der Gegend. Sein 41 Meter hohes Monument wurde 1838 an der Gabelung Nelson Street/Market Street aufgestellt. Vor Jahren verlor der Earl während eines schweren Gewitters durch einen Blitzschlag seinen Kopf. „Ein Geordie ohne Kopf – undenkbar“, sagten die Leute von Tyneside und setzten ihrem Altvorderen diesen unverzüglich wieder auf.

Den größten Trumpf aber behält Alex bis zum Schluss im Ärmel. Der Tyne, einst der – Zitat – „versiffteste Fluss“ im ganzen Königreich, ist jetzt so sauber, dass sich in ihm wieder Lachse und Forellen in ständig wachsenden Populationen wohlfühlen. Auch Delphine spielen gelegentlich am Bug der vor Anker liegenden Schiffe. Und manchmal verirrt sich sogar ein kleiner Wal aus der Nordsee in das Gewässer.

Kein Zweifel, Newcastle ist eine Stadt zum Staunen und Genießen. Denn auch an urigen Pubs und guten Restaurants herrscht kein Mangel. Eine angesagte Adresse ist das Blackfriars Café Bar B 4. Ein Ort, der das Mittelalter heraufbeschwört. 1239 diente der schöne Speisesaal den „Schwarzen Mönchen“ noch als Refektorium. Heute werden hier würziges einheimisches Bier vom Fass und eine Reihe typisch britischer Spezialitäten angeboten, unter anderen Lammbraten mit Mintsoße und jede Menge leckerer Pies. In unmittelbarer Nähe lockt der Grainger Market, eine Einkaufsarkade der Sonderklasse. Dieses nostalgische Kleinod wurde bereits Mitte des 19. Jahrhundert von weitsichtigen Kaufleuten sehr modern gestaltet. Viele Eingänge sorgen für stetig frische Luft und machen eine Klima­anlage überflüssig. Die Mischung aus bunten Gemüse- und Fleischständen, flippigen Modeboutiquen und originellen Läden ist von unwiderstehlichem Charme.

Vor der Abreise winkt noch ein ungewöhnliches Stück Kunst. Der „Rostige Engel“ – eine riesige Athletenskulptur aus rostrotem Metall mit weit ausgebreiteten Flügeln – blickt auf die Besucher herab. „Der Künstler wollte zu einer Zeit, als es Newcastle gar nicht gut ging, darauf hinweisen, dass wir auch noch da sind“, sagt Alex. Das ist ihm gelungen. Denn heute ist die schöne Stadt am Tyne wieder in aller Munde. Auch ohne Kohle.     Uta Buhr


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