26.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
16.06.12 / Tabuthema Massenvergewaltigungen diskutiert / Frauenverband des Bundes der Vertriebenen und Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen luden nach Berlin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-12 vom 16. Juni 2012

Tabuthema Massenvergewaltigungen diskutiert
Frauenverband des Bundes der Vertriebenen und Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen luden nach Berlin

Von den Tabus im Zusammenhang mit dem Themenkomplex Zweiter Weltkrieg ist es wohl dasjenige, das sich am längsten gehalten hat: die massenweisen Vergewaltigungen von Frauen und Mädchen durch Angehörige der Roten Armee in den Jahren 1944/45. Schätzungen gehen mittlerweile davon aus, dass etwa zwei Millionen Frauen und Mädchen im Osten Deutschlands zum Opfer von Vergewaltigungen wurden, und dass zwölf Prozent der betroffenen Frauen durch die erlittene Gewalt zu Tode kamen.

Wie hartnäckig das Thema Massenvergewaltigungen bis heute mit einem Tabu belegt ist, wurde bei einer Veranstaltung des Frauenverbandes des Bundes der Vertriebenen (BdV) und der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin deutlich, die vorletzten Donnerstag in Berlin stattfand. Zu einer Podiumsdis­kussion unter Leitung der Präsidentin des Frauenverbandes des BdV, Sibylle Dreher, war unter anderem der Mediziner Philipp Kuwert geladen. Mit seiner an der Universität Greifswald vor erst sieben Jahren aufgenommenen Arbeit zu den Traumatisierungen und den Langzeitfolgen der damaligen Ereignisse betritt er in Deutschland immer noch wissenschaftliches Neuland – fast 70 Jahre nach Kriegsende. Bereits die wenigen präsentierten Zahlen machen deutlich, wie brisant die Forschungsergebnisse des Greifswalder Forschungsprojekts sind. Die befragten Frauen berichteten im Durchschnitt von zwölf Vergewaltigungen, die sie durchlitten haben – eine Frau wurde gar 70-mal vergewaltigt. Das Durchschnittsalter der Opfer betrug zum Zeitpunkt der Tat lediglich 16 Jahre. Unter den befragten Zeitzeugen, die im Rahmen der Studie befragt wurden, war das jüngste Opfer zwölf Jahre alt. Nach Angaben Kuwerts ist allerdings auch ein Fall bekannt, bei dem ein fünfjähriges Kind zum Opfer wurde. Zusätzlich hatten alle befragten Frauen weitere Kriegstraumata erlitten – im Durchschnitt wurde von zehn weiteren extremen Kriegstraumata berichtet: vom Fast-erschossen-werden durch Rotarmisten bis dahin, als Zivilist in Maschinengewehrfeuer der Front zu geraten. Fast die Hälfte der Befragten hat bis heute klinisch relevante Symptome im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Welcher Bedarf an Therapie bis heute vorhanden ist, machte Sabine Böhm vom Frauennotruf Nürnberg deutlich. Nachdem erst in den letzten Jahren entsprechende Hilfsstrukturen etwa in Pflegeheimen entstanden sind, wird mittlerweile jedes fünfte Beratungsgespräch des Nürnberger Frauennotrufs mit Seniorinnen über 60 geführt. Die Einrichtung ist, ähnlich wie das Greifswalder Forschungsprojekt, bundesweit in dieser Form immer noch eine Ausnahme.

Der anhaltende Unwille der Gesellschaft, sich mit der Thematik zu beschäftigen, ist eine Erfahrung, die alle Teilnehmer der Podiumsdiskussion gemacht haben. Die Journalistin Ingeborg Jacobs hatte sogar noch im vergangenen Jahr Probleme, bei einem Fernsehsender die Schicksale betroffener Frauen darzustellen: „Am besten hätten die Frauen die Vergewaltigungen überhaupt nicht erwähnen sollen, und wenn, dann hätte das Wort höchstens in acht Minuten nur einmal auftauchen sollen.“

Worin dieses langanhaltende Desinteresse in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft mitbegründet sein könnte, machte der ebenfalls bei der Veranstaltung anwesende Arnulf Baring deutlich. Als Kind hat er selbst das Kriegsende in Berlin erlebt. Sein Eindruck: Die Deutschen im Westen haben eine völlig andere Erinnerung an den Krieg als die Deutschen östlich der Elbe. Bei der Erinnerung und Beurteilung der Kriegsereignisse gebe es so nicht nur eine Spaltung zwischen den Generationen, sondern auch eine geografische Spaltung.

Wenig ermutigend klingt auch Barings Einschätzung, dass die Verkrampfung, wenn es darum geht, auch deutscher Opfer des Krieges zu gedenken, nicht ab-, sondern weiter zunehme.

Die Hoffnungen auf eine „biologische Lösung“, sprich das Sterben der Erlebnisgeneration, wie sie in Medien und Behörden weit verbreitet zu sein scheint, dürfte sich allerdings als trügerisch herausstellen. Als wissenschaftlich gesichert gilt nämlich inzwischen, dass sich die psychologischen Störungen aufgrund der traumatischen Erlebnisse bis in folgende Generationen fortpflanzen. Sie werden quasi Teil des kollektiven Unterbewusstseins.

Dass es sich bei den Massenvergewaltigungen um keine spontanen Gewaltakte Einzelner handelt, sondern um eine strategische Kriegswaffe mit Langzeitwirkung, hat spätestens der Balkankrieg in den 1990er Jahren deutlich gemacht. Über den Zeitpunkt der Kapitulation hinaus werden in den Tiefenschichten der individuellen und kollektiven Psyche der Besiegten langanhaltende, schwerste Schäden verursacht. Das zielt nicht nur auf die Frauen als Opfer, sondern soll den gesellschaftlichen Zusammenhalt insgesamt brechen. Ehemännern, Vätern und Brüdern soll durch die Gewalt an Frauen ihre Hilfs­losigkeit als Beschützer vorgeführt werden, das Selbstwertgefühl soll langfristig unterminiert werden. Der UN-Sicherheitsrat hat in einer Resolution inzwischen einen internationalen Rechtsrahmen verabschiedet, um sexuelle Gewalt in kriegerischen Konflikten ächten zu können. Norman Hanert


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren