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16.06.12 / Für Liebe keine Zeit / Satire auf den Wissenschaftsbetrieb und Beziehungen im digitalen Zeitalter

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-12 vom 16. Juni 2012

Für Liebe keine Zeit
Satire auf den Wissenschaftsbetrieb und Beziehungen im digitalen Zeitalter

In Zeiten hoher Scheidungsraten sind Versprechen wie „In guten wie in schlechten Zeiten“ und „Bis dass der Tod uns scheidet“ schnell hinfällig. Die sinkende Zahl der Eheschließungen und der Zuwachs der Singlehaushalte lassen auf ein Aussterben von lebenslangen Bindungen schließen. Die persönliche Individualität und Selbstverwirklichung steht im Vordergrund und stellt die Verantwortung gegenüber Partner und Familie hinten an. Der Wunsch nach einer stabilen Beziehung ist nach wie vor vorhanden, aber sowohl die eigenen Ansprüche als auch die Anforderungen nach beruflicher Flexibilität und Mobilität auf dem globalisierten Arbeitsmarkt erschweren seine Realisierung. Der Lebenspartner wird immer häufiger zum Lebensabschnittgefährten.

Diesem gesellschaftlichen Trend folgt auch der Protagonist in Arnon Grünbergs Roman „Mit Haut und Haaren“. Darin ist Roland Oberstein, der wie sein Schöpfer Niederländer ist, mit seinem Beruf verheiratet. Für seine Karriere hat sich der Wirtschaftswissenschaftler von seiner Frau getrennt und ist in die USA gezogen. Dort erforscht er an einer New Yorker Universität die Geschichte der Spekulationsblasen, die bekanntermaßen zu Preiseinbrüchen bis hin zum Börsencrash führen. Neben seiner Liebe zu Zahlen und Statistiken bleibt keine Zeit für Beziehungen, weder zu seiner Ex-Frau Sylvie und seinem Sohn Jonathan noch zu seiner in Amsterdam gebliebenen Freundin Violet.

Nicht einmal ein Seitensprung Violets bewegt den Gefühlskrüppel: „Verzweiflung kostet Zeit, und wenn er etwas nicht hat, ist es das: Zeit.“ Erst die Holocaust-Forscherin Lea, deren Spezialgebiet Auschwitz-Lagerkommandant Rudolf Höß ist, lässt den Workaholic auftauen. Beide beginnen eine Affäre. Lea fühlt sich seit langem von ihrem Mann, dem Bezirksbürgermeister Brooklyns, vernachlässigt, der seinerseits ein Verhältnis mit einem jungen Mann hat. Doch auch sie hat Schwierigkeiten, zu Roland durchzudringen. Die Protagonisten kommen sich näher, ohne sich nahe zu sein.

„Mit Haut und Haaren“ ist eine bitterböse Satire auf den Wissenschaftsbetrieb, die Finanzwelt und moderne Beziehungen im digitalen Zeitalter. Durch die Perspektivwechsel sowie die Verknüpfung von Gegenwart und Rückblenden gelingt es dem Autor, die verwobenen Personenkonstellationen zu veranschaulichen. Rasche Ortswechsel zwischen Frankfurt, Amsterdam und New York sowie ein flotter Schreibstil sorgen für Abwechslung. Sophia E. Gerber

Arnon Grünberg: „Mit Haut und Haaren“, Diogenes, Zürich 2012, geb., 688 Seiten, 22,90 Euro


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