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14.07.12 / Gerade rechtzeitig / Ein Zufall brach den Bann des Schweigens

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-12 vom 14. Juli 2012

Gerade rechtzeitig
Ein Zufall brach den Bann des Schweigens

Auf der Fahrt sprachen sie kaum miteinander. Claudia brachte Michael mit ihrem Wagen zum Intercity. Sie musste sich auf den Verkehr konzentrieren. Deshalb konnte sie nicht darüber reden, was eigentlich gesagt werden musste. Sie hoffte, dass Michael beim Abschied das entscheidende Wort sagen würde. Nur mit Mühe fanden sie einen Parkplatz. Sie hasteten durch die Eingangshalle. Dann standen sie sich auf dem Bahnsteig gegenüber. Um sie herum war Hektik. Michael und Claudia redeten über Belangloses, „Wenn du die Reicherts triffst, grüße sie noch einmal von mir“, sagte Michael. „Es waren wirklich sehr nette Vermieter. Ich habe gern bei ihnen gewohnt.“

Und er dachte: „Ich konnte nicht  hier bleiben, weil das Angebot in Hamburg einfach zu verlockend für mich war. Aber das Anfangsgehalt reicht nicht aus, um zu heiraten. Deshalb habe ich Claudia nicht gefragt, ob sie mit mir kommen will. Sie müsste ihre Stellung aufgeben. Ich könnte die Verantwortung dafür nicht tragen. Und Claudia hat von sich aus niemals eine Andeutung gemacht, dass sie mich in eine ungewisse Zukunft begleiten würde. Gewiss, wir lieben uns. Doch wer weiß, ob diese Liebe eine so lange Trennung übersteht, wie sie jetzt vor uns liegt.“

Claudia sagte: „Ich hoffe, dass du mir ab und zu schreibst. Aber du brauchst es nicht zu versprechen. Zunächst musst du dich in Hamburg ja erst einmal umsehen. Es wird nicht leicht sein, eine günstige Wohnung zu finden.“ Und sie dachte: „Weshalb fragt er mich  nicht, ob ich mit ihm gehen will. Wir können uns doch so nicht trennen. Michael muss doch wissen, was er mir bedeutet. Ich liebe ihn. Aber ich fühle, dass wir uns nicht wiedersehen werden, wenn das Wichtigste jetzt ungesagt bleibt.“

Die Lautsprecherstimme ertönte. „Reisende zum Intercity nach Hamburg – bitte einsteigen. Der Zug fährt in wenigen Minuten ab!“ Michael nahm Claudia in die Arme. Für einen Abschiedskuss blieb nicht viel Zeit. Ein Pfiff ertönte. Michael stieg ein und öffnete das Fenster. Er sah zu Claudia herunter und versuchte ein aufmunterndes Lächeln. Dann, als der Zug langsam anfuhr, sagte er etwas. Claudia verstand ihn nicht. Ohne auf ihre Umgebung zu achten, folgte sie dem Wagen. Der Zug fuhr schneller. „Was hast du gesagt, Michael?“ Da geschah es! Claudia spürte das Hindernis erst, als sie es mit beiden Händen umfasste.

Der kleine korpulente Herr hatte an der Bahnsteigkante gestanden. Er fühlte einen Stoß in den Rücken und sah sich plötzlich von der jungen Frau umklammert. Sein steifer, schwarzer Hut kollerte zu Boden. Die Kopfbedeckung wäre beinah unter die Räder des Zuges geraten, hätte sie nicht ein kleiner Junge gerettet, dem der Hut vor die Füße rollte. Er schwenkte ihn wie ein Beutestück in die Luft. Lachen erscholl auf dem Bahnsteig. Auch Michael wurde davon angesteckt. Sie sah sein Jungenlachen, das sie so sehr an ihm liebte. Er beugte sich weit aus dem Wagenfenster, formte die Hände zum Trichter vor den Mund und rief Claudia zu: „Bis bald, in Hamburg!“

Der Zug fuhr schneller. Michael machte die Geste des Telefonierens. Sie verstand sofort. Der Bann war gebrochen! Durch den unvorhergesehenen Zwischenfall hatte sich die Spannung zwischen ihnen gelöst. Glücklich winkte Claudia Michael nach. Dann drehte sie sich um, ging zu dem kleinen korpulenten Herrn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Als Entschuldigung und Dank an einen glücklichen Zufall, den ihr das Schicksal gebracht hatte.       Albert Loesnau


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