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28.07.12 / Die Tyrannei der Öffentlichkeit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-12 vom 28. Juli 2012

Die Tyrannei der Öffentlichkeit
von Hinrich E. Bues

Bin gerade auf Ibiza angekommen! Urlaub!!!“, twitterte ein holländischer Nationalspieler nach dem blamablen Ausscheiden seiner Mannschaft an seine Fans. Diese scheinbar harmlose Botschaft erzürnte jedoch die Empfänger und sorgte für böses Blut. Dem Fußballer wurde noch nicht einmal sein Urlaub gegönnt. Kaum jemand kann heute die Folgen abschätzen, wenn er in der gegenwärtigen digitalen Welt über „Facebook“ oder andere Medien seinen „Freunden“ an seinem Leben Anteil gibt. Allzu schnell zeigen diese sich als ve-ritable Feinde.

Kein Freund der neuen Offenheit ist der Bundestrainer der deutschen Nationalmannschaft Joachim Löw. In einem Interview mit der „Zeit“ sagte er: „Es ist für mich ganz und gar unverständlich, wie Menschen ihr Privatleben, bis hin zu wirklich vertraulichen, ja intimen Dingen, so wahllos mit Tausenden oder gar Millionen Menschen teilen.“ Da hat Löw noch nicht einmal übertrieben, denn ein Spieler wie Mesut Özil hat tatsächlich eine „Facebook“-Fangemeinde von 5,6 Millionen Menschen. Was die Spieler daher der Öffentlichkeit mitteilen dürfen, wird inzwischen genau reglementiert. Spötter sagen, dass eine Fußballmannschaft bald mehr Zeit mit der Absprache des Facebook-Twitter-Knigges verbringt als mit dem realen Training auf dem Fußballplatz. Über Verletzungen von Spielern, Taktiken, Mannschaftsaufstellungen, Inhalten von Teambesprechungen und über persönliche Dinge darf nichts mehr geschrieben werden, legten die Fußball-Oberen fest. Andere Mannschaften wie Spanien oder Dänemark verordneten sogar eine völlige Funkstille.

Spätestens als die Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung Schufa vor einigen Monaten ankündigte, die „Facebook“-Seiten von potenziellen Kreditnehmern in ihre Nachforschungen einzubeziehen, dürfte einigen der Sorglosen ein gehöriger Schreck in die Glieder gefahren sein. Die Organisation, die Auskunft über die Kreditwürdigkeit nahezu jedes Bundesbürgers gibt, wollte tatsächlich aus den in den sozialen Netzwerken veröffentlichten Urlaubsfotos Rückschlüsse auf deren finanzielle Solvenz ziehen. Da bei Bewerbungsgesprächen Personalchefs immer häufiger auf Informationen bei „Google“ oder anderen Informationsquellen der digitalen Welt zurückgreifen, wäre für die jungen Leute von heute Vorsicht angesagt. Der alte Satz „Wer nichts Verbotenes tut, braucht auch nichts zu verbergen“, verliert in der digitalen Welt seine Unschuld. Das witzig gemeinte Foto eines Saufgelages im Urlaub kann auf einen zukünftigen Arbeitgeber abschreckend wirken.

Etwas blauäugig wirken daher auch Äußerungen von Marina Weißbrand, der einstigen Gallionsfigur und Geschäftsführerin der Piraten-Partei. Sie hatte angekündigt, über jede Stunde ihres Tagesablaufes ihrer Twitter- und Facebook-Gemeinde Rechenschaft abzulegen. Rückhaltlose Transparenz und Offenheit sollte zu mehr Vertrauen in die Politik führen. Nur kurze Zeit später trat sie entnervt von ihren Parteiämtern zurück. Sie wolle sich auf ihr Psychologie-Studium konzentrieren, hieß es offiziell. Andere Stimmen vermuteten bei Weißbrand einen Burn-out, einen Zusammenbruch unter der selbst auferlegten Last.

Die Wahlerfolge der Piraten-Partei werden meist mit den Stichworten „Transparenz“ oder „digitale Welt“ begründet. „Bedingungslose Teilhabe aller Menschen an Gesellschaft“ nannte Christopher Lauer als Fraktionschef der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus das Ziel seiner Partei. Dabei muss schon das Wort „bedingungslos“ stutzig machen. Mag es noch verheißungsvoll klingen, wenn er „ein transparentes Staatswesen“ fordert, das „alle seine Informationen zugänglich macht, damit sich Wähler für die Bürgerbeteiligungsprozesse zwischen den Wahlen gut informieren können“, so sind die Grenzen und Gefahren einer solchen Weltsicht schnell erkennbar.

Der Berliner Piratenchef wiederholt damit eine alte Forderung, die Linke und Aufklärer aller Couleur in den letzten 200 Jahren immer wieder erhoben haben. Unmittelbar nach dem Sieg der französischen Revolution von 1789 installierte der „Wohlfahrtsausschuss“ unter der Führung Robespierres ein System der Informationsbeschaffung, das bald Ströme von Blut nach sich zog. Die Wagen der zum Tode Verurteilten ratterten bald durch Paris und andere Städte des Landes, weil zahllose Spitzel die „Feinde des Volkes“ denunziert hatten. Das „transparente Staatswesen“ oder die „bedingungslose“ Beteiligung des Volkes führte schnell zu totalitären Machtsystemen. Die Namen von Josef Stalin, Mao Zedong, Adolf Hitler oder Erich Honecker stehen für solche Systeme der Informationsbeschaffung. Als es die digitale Welt noch nicht gab, mussten Blockwarte, informelle Mitarbeiter oder politische Sekretäre die notwendigen Informationen über Lebensstil und Gesinnung der Menschen heranschaffen. Wer einmal die alte Stasi-Zentrale in der Ost-Berliner Normannenstraße besichtigt hat, dem läuft es kalt den Rücken herunter angesichts dieser unheimlichen Transparenz.

Ein Vorläufer all dieser Diktatoren war der im Bürgertum verehrte Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), der sich in seinem Buch „Bekenntnisse“ als früher Enthüller und Verteidiger der vollkommenen Durchsichtigkeit gerierte. In seiner autobiografischen Schrift kündigt er eine schonungslose Offenbarung des Herzens an. Was eigentlich nur dem barmherzigen Gott im Jüngsten Gericht zusteht, das wollte Rousseau vor der Welt entblößen. Sein Gebot der Sittenlehre „Tue und sage niemals etwas, was nicht die ganze Welt sehen und hören könnte“ klingt plausibel, ist aber verräterisch. Denn von dem Ruf nach der absoluten Transparenz geht die Nötigung aus, auch die dunklen Seiten des Lebens zu offenbaren. Da jeder Mensch etwas hat, was mangelhaft oder defizitär ist, entsteht hier ein System, das auf Misstrauen und Kontrolle – und nicht auf Freiheit – beruht.

In der digitalen Welt von heute, als deren Anwalt die Piraten-Partei heute auftritt, hat sich die notwendige Informationsbeschaffung nur in einem Punkt geändert. Man braucht keine Spitzel und Denunzianten mehr, weil sich die Menschen durch ihre Internet-Aktivitäten selbst verraten. Wenn, wie es derzeit in Schweden diskutiert wird, das Bargeld komplett durch Kreditkarten und andere bargeldlose Bezahlsysteme ersetzt ist, wird man jederzeit nachvollziehen können, was jeder wo und zu welcher Zeit gekauft hat. Die heutigen Mobiltelefone verraten bereits detailliert, wo man sich wann aufhält.

Angesichts dieser Situation scheint das gesunde Maß zwischen Intimität und Transparenz, zwischen Privatem und Öffentlichem entscheidend zu sein. Wer hier Bedingungslosigkeit in der einen oder anderen Richtung fordert, ist auf dem besten Wege zu einem totalitären Staat. Der Schriftsteller Peter Handke  sagte einmal: „Von dem, was die anderen nicht von mir wissen, lebe ich.“ Diese Meinung muss den Mitgliedern der Transparenzgemeinde, die das Recht auf Allinformiertheit und auf den gläsernen Menschen zum Wohle des Volkes proklamieren, wie eine Häresie vorkommen. Dabei beruht sie auf ganz natürlichen Empfindungen einer in der bürgerlichen Welt gepflegten Kultur, in der Scham zählte und vieles verborgen und nicht enthüllt wurde. Im Gegensatz zum US-Lebensgefühl redet man hierzulande nicht so gerne darüber, wie hoch das eigene Einkommen oder Vermögen ist. Das hat seinen guten Grund: Sitte, Vernunft und Lebenserfahrung lehren, dass eine Balance von Offenheit und Geheimnis zu wahren ist. Auch der Staat, der tatsächlich für Freiheit und Demokratie eintreten will, muss die Privatsphäre des Bürgers soweit irgend möglich wahren wollen, andernfalls droht der Egalitarismus des Totalitären.


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