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28.07.12 / Von Wolfskindern zu engagierten Helfern / Ehepaar Kenzler widmete seiner Heimat Ostpreußen einen Großteil der Freizeit − Auch die Kinder arbeiten aktiv mit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-12 vom 28. Juli 2012

Von Wolfskindern zu engagierten Helfern
Ehepaar Kenzler widmete seiner Heimat Ostpreußen einen Großteil der Freizeit − Auch die Kinder arbeiten aktiv mit

Heinrich und Sieglinde Kenzler aus Oranienburg, beide in Ostpreußen geboren, sind ruhige und bescheidene Eheleute. Man sieht ihnen nicht an, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend sehr schlimme Erfahrungen in ihrem Leben gesammelt haben und welche aufopferungsvollen Tätigkeiten sie heute als Rentner unter dem Motto „Erbe erhalten – Zukunft gestalten“ immer noch leisten.

Sieglinde Kenzler, geborene Liedke, wurde 1935 in der Kreisstadt Wehlau geboren. Sie lebte bis Januar 1945 mit ihrer Mutter und ihren vier Geschwistern zufrieden in Wehlau. Im Januar 1945 bei Schnee und bitterer Kälte begann die Flucht vor der herannahenden Roten Armee. Von den Russen wurde die Familie mit vielen anderen in ein Arbeitslager getrieben. Hier lernte Sieglinde ein fast unerträgliches Leben kennen, Hunger, Krankheit, den Tod vieler Menschen. Die Mutter wurde schwer krank, ärztliche Hilfe gab es keine. Als die Mutter starb, begruben ihre fünf Kinder sie ganz allein auf dem Friedhof in Wehlau. Nach dem Tod der Mutter übernahmen Sieglinde und ihr ältester Bruder die Verantwortung für die jüngeren Geschwister. Von Wehlau fuhren die Kinder mutterseelenallein nach Litauen, dort sollte es etwas zu Essen geben.

Mehrere Tausend deutsche Waisenkinder, Kinder ohne Eltern  vagabundierten durch die ostpreußischen und litauischen Wälder. Später nannte man diese Kinder „Wolfskinder“. Der tägliche Kampf um etwas Essbares bestimmte ihr Dasein. Ein Nachtlager fanden sie meist in Straßengräben. „Die angesprochenen Bauern gaben uns meist etwas Essbares, aber behalten wollte uns keiner“, erinnert sich Sieglinde. So ging es Tag für Tag, Woche um Woche, Jahr für Jahr.

Die Geschichtsforschung spricht von mehr als 5000 deutschen Kindern, die als Wolfskinder jahrelang leben mussten. 150 Kinder und Jugendliche landeten im Waisenheim in Kyritz im Land Brandenburg. Im März 1956 gelang  auch Sieglinde die Ausreise aus Kaunas/Litauen nach Deutschland. Ihre Schwester Irmgard hatte sie vorher noch in Litauen gefunden, sie sprach jetzt litauisch und Sieglinde russisch.

1946 starb auch die Mutter von Heinrich Kenzler, auch er irrte als Wolfskind durch Ostpreußen. Über ein russisches Kinderheim in der Nähe von Insterburg, kam er schon 1948 nach Deutschland, nach Eggesin, traf hier einen Bruder von Sieglinde Liedke und von hier ging es in das Waisenheim nach Kyritz.

Nach neun langen Jahren und nach dem Tod ihrer Mutter fanden sich alle Liedke-Kinder und auch Heinrich Kenzler 1956 in Kyritz wieder. Sieglinde war eine junge Frau geworden und russische Staatsbürgerin. Das Kinderheim in Kyritz wurde ihr Zuhause. Das Wiedersehen war sehr ergreifend und schön, erinnert sich Sieglinde heute. Gemeinsames Schicksal schweißt zusammen. Eine große Schwierigkeit war es, wieder Deutsch zu lernen. Heimleitung und Erzieher nahmen Sieglinde und Heinrich, wie auch die anderen Kinder an die Hand, gaben ihnen Hilfestellung, sich im Leben zurecht zu finden. Dafür sind beide der damaligen Heimleitung und den Erziehern auch heute noch dankbar.

Alle zwei Jahre treffen sich die ehemaligen Heimkinder in Kyritz und freuen sich, dass ihr Kinderheim heute noch steht und als Wohnraum genutzt wird. 1956 begann Sieglinde ein Studium für Heimerzieher mit Lehrbefähigung. Die Heirat ihres Heinrichs verzögerte sich, da Sieglinde immer noch die sowjetische Staatsangehörigkeit besaß und demzufolge keinen Deutschen heiraten durfte. Im Januar 1958 wurde auch diese Hürde genommen und endlich geheiratet. Sieglinde und Heinrich Kenzler bekamen vier Kinder und heute sind sie achtfache stolze und zufriedene Großeltern.

Heinrich Kenzler nahm eine typische berufliche Entwicklung in der damaligen DDR. Über seine Tätigkeit in der Volkspolizei kam er zur NVA und wurde durch weiteres Studium Instandsetzungsoffizier der NVA bis er nach 36 Berufsjahren hier ausschied und als Zivilangestellter von der Bundeswehr übernommen wurde.

Sieglinde war viele Jahre als Heim- und Horterzieherin in Kyritz und später in Oranienburg in der Waldschule tätig und betreute bis zur Wende 1989 Russischklassen für begabte Schüler in der Thorhorstschule.

Nach der Wende besuchten sie 1991 erstmals wieder ihre Heimat. Von Berlin flogen sie nach Wilna. Ein Bus brachte sie über Kaunas, Gumbinnen und Insterburg nach Königsberg. Sie kamen ohne große Erwartungen aber mit viel Wehmut in ihre Heimat. Sie genossen die Schönheit der Landschaft, der Memel und der Kurischen Nehrung in vollen Zügen. Die Menschen heute dort leben aber meist auch noch in Armut, es fehlt oft das Nötigste, besonders den Kindern in den Heimen.

Die Tätigkeit der Eheleute Kenzler ist ein konkreter Beitrag zur Versöhnung zwischen Deutschen und Russen. „Erbe erhalten – Zukunft gestalten“ heißt für Sieglinde und Heinrich Kenzler: Geschichte und Kultur der Ostpreußen bewahren, sie der heutigen Jugend in Deutschland und in Russland nahe bringen. Aussöhnung zwischen Deutschen und Russen leben, freundschaftliche Beziehungen zwischen den Menschen beider Völker gestalten, dort helfen, wo Hilfe echt nötig ist. Mit hohem persönlichen Einsatz und  Koordinierungs-aufwand organisieren sie maßgeblich zwei große Projekte: Schüleraustausche und Hilfslieferungen.

In Oranienburg sammelt das Ehepaar Bekleidung, Schulbedarfsartikel, Sport- und Spielsachen und auch kleine Geldspenden. Unterstützt werden sie durch die Kreisgemeinschaft Wehlau und den Bundesvorstand der Landsmannschaft Ostpreußen. Auch vom Bund der Vertriebenen des Landes Brandenburg, dem Bürgermeister der Stadt Oranienburg und vielen anderen erhalten sie Unterstützung. Auch durch Oranienburger Ärzte, Apotheker, Hebammen und anderen Bürgern erfahren die Kenzlers mit Sach- und kleinen Geldspenden Hilfe. Bei größeren Transportmengen unterstützt sie die Gruppe „Hilfe und Tat“ aus Ottersberg durch Bereitstellung eines Lkw. Eine Herzensangelegenheit von Sieglinde und Heinrich ist auch ihre aktive Mitwirkung an Schüleraustauschen Oranienburger Gymnasien  mit Schulen im Königsberger Gebiet. Diese Schüleraustausche gibt es seit 2005. Im September sind Schüler einer Schule in Tapiau beim Marie-Curie-Gymnasium in Hohen Neuendorf zu Gast. Bei diesem Projekt arbeiten sie eng mit der Arbeitsgruppe Jugend, Schule und Geschichte des Landes Brandenburg zusammen und werden auch von dieser unterstützt.

Dass Sieglinde Kenzler perfekt russisch spricht, kommt ihr bei den Kontakten in Russland sehr zu Gute und öffnet sofort die Herzen der Menschen dort. Für 2013 sind wieder weitere Schüleraustausche mit gleichzeitiger Vermittlung von konkreter Geschichte wie dem Tilsiter Frieden geplant. Die russischen Lehrer und Schüler bedanken sich herzlich bei Sieglinde Kenzler für ihre Bemühungen und zeichneten sie als „Botschafterin der Völkerverständigung“ aus.

Ihre vier Kinder und Schwiegerkinder kennen die Lebensgeschichte ihrer Eltern genau, wissen um deren Tätigkeiten.  Eine Tochter ist Mitglied im Kreisverband Wehlau e.V. Eine zweite Tochter unterstützt im Rahmen einer Arbeitsgruppe von Frauen in Brandenburg die Herstellung von Stricksachen für russische Kinder.

Nach ihren persönlichen Wünschen gefragt, sind sich beide Kenzlers sofort einig – sie wünschen sich noch weiterhin viel Kraft und Gesundheit für mehrere Jahre ihrer schönen Tätigkeit und viele Verbündete. Hans-Joachim Speckmann


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