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01.09.12 / Das Parlament kastriert sich selbst

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 35-12 vom 01. September 2012

Das Parlament kastriert sich selbst
von Vera Lengsfeld

Parlamentarismus, so lautet die gängige Definition, ist ein Prinzip politischer Ordnung, das besagt, dass die Vertreter des Volkes, genannt Parlamentarier, über die Gesetzgebung bestimmen (Legislative). Das politische Machtzentrum eines parlamentarischen Staates liegt in der Volksvertretung, dem Parlament, ungeachtet dessen, welche Staatsform der betreffende Staat de jure besitzt.

Legt man diese Definition zugrunde, kommen sofort Zweifel, ob wir es in Deutschland noch mit Parlamentarismus zu tun haben. Seit Beginn der Euro-Krise hat sich die Macht der Exekutive stetig vergrößert. Der Bundestag hat sich mehr und mehr zum Zuschauer der immer hektischer werdenden Regierungsaktivitäten degradieren lassen. Am deutlichsten wurde das bei der Verabschiedung des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM am 30. Juni diesen Jahres. Die notwendige Zweidrittelmehrheit kam zustande, obwohl es vor den Abstimmungen vor allem in den Fraktionen von Union und FDP erhebliche Irritationen über die Resultate des Brüsseler Gipfeltreffens gegeben hatte, das am Abend vorher stattgefunden hatte. Die Staats- und Regierungschefs hatten in der Nacht überraschend vereinbart, dass marode Banken künftig unter bestimmten Bedingungen auch direkt vom ESM unterstützt werden können. Dies hatte die Bundesregierung bisher abgelehnt. Auch die vom Bundestag beschlossene Fassung des ESM-Vertrags sieht keine direkten Hilfen vor. Das Parlament stimmte also über einen schon überholten Text ab, der zudem nur in Englisch vorlag und in dem einige Passagen gefehlt haben sollen.

Das ist in der Geschichte des Deutschen Bundestages ein bisher einmaliger Vorgang. Zu befürchten ist, dass sich ähnliche Szenen in Zukunft wiederholen könnten. Das Ganze wäre ein vollendeter Staatsstreich gewesen, hätte nicht das Verfassungsgericht im Anbetracht der zahlreichen Klagen den Bundespräsidenten gebeten, den Vertrag nicht zu unterzeichnen. Nun wird das höchste Gericht im September entscheiden, ob der ESM verfassungskompatibel ist. Schon vorher hatten die Verfassungsrichter die Parlamentarier ermahnen müssen, ihre Rechte nicht aufzugeben. Aus eigener Kraft ist der Bundestag weder willens noch in der Lage, das Regierungshandeln in der Euro-Krise zu kontrollieren.

Die Exekutive wird mit jedem Tag unverblümter mit ihrem Verlangen nach Alleinherrschaft. Anfang August forderte der nicht gewählte Premier von Italien Mario Monti mehr Unabhängigkeit der europäischen Regierungschefs von ihren Parlamenten. Die Parlamente müssten „erzogen“ werden. Zwar ruderte Monti nach Kritik zurück, aber bezeichnend ist, dass er es gewagt hat, diesen Gedanken auszusprechen. Vor Monti hat Finanzminister Wolfgang Schäuble immer mal wieder seinen Wunsch geäußert, die EU-Kommission möge zur Zentralregierung Europas werden. Alle EU-Kommissare sind nicht gewählt, sondern von ihren Regierungen eingesetzt. Schäubles Vorhaben ist ein Bruch der europäischen Rechtsstaatstradition.

Der Rechtsstaat hat das Ziel, die Freiheit des einzelnen Menschen gegen die politisch Mächtigen zu schützen, zu bewahren und zu verteidigen. Eines der Mittel hierzu war und ist die Idee der Gewaltenteilung, wie sie von Immanuel Kants Rechtslehre in der „Metaphysik der Sitten“ beschrieben wurde. Seit Kant spricht man von den drei Staatsgewalten oder auch -funktionen: Die Legislative beschließt die Gesetze, denen jedermann unterworfen ist und durch die der Staat funktionieren soll. In den modernen Demokratien haben die Parlamente und deren Abgeordnete diese Funktion inne. Die Exekutive, in den modernen Staaten sind das Regierung und Verwaltung, führt im Rahmen jener Gesetze die Staatsgeschäfte. Unabhängige Gerichte und Richter sollen die Einhaltung der allgemeinen Spielregeln gewährleisten. Keine der drei Gewalten soll dominieren und die anderen zwei Gewalten beherrschen. Die Strukturen der Gewaltenteilung sollten gewährleisten, dass dem Risiko der Machtausdehnung und des Machtmissbrauchs schon im Vorfeld Einhalt geboten wird. Macht muss beschränkt werden, damit Freiheit ermöglicht und dauerhaft gesichert werden kann. Wie die Menschheitsgeschichte lehrt, wird der Versuchung, die Macht zu missbrauchen, regelmäßig nachgegeben. Schon der britische Historiker Lord Acton hat das deutlich gemacht: „Macht zielt darauf ab, zu korrumpieren, und absolute Macht korrumpiert vollständig.“ Auch für Carlo Schmidt, einer der Väter des Grundgesetzes, ergibt sich die Gewaltenteilung zwingend aus der geschichtlichen Erfahrung: „... wo auch immer die gesamte Staatsgewalt sich in den Händen eines Organs vereinigt, dieses Organ die Macht missbrauchen wird.“

Wie sieht die Verfassungswirklichkeit in Deutschland aus? Die Staatsgewalt geht gemäß der Norm des Artikel 20 Absatz 2, Satz 2 des Grundgesetzes (GG) vom Volke in Wahlen und Abstimmungen aus und ist durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung auszuüben. Während im GG die Autonomie der Legislative explizit durch entsprechende Formulierungen verankert ist (Art. 38, 39 und 40 GG), unterbleibt dies für die dritte Gewalt – hier findet man nur die allgemeinen Umschreibungen in den Artikeln 92, das die Rechtsprechung den Richtern anvertraut ist und 97 GG, der allgemein von der Unabhängigkeit der Richter spricht.

Diese Schwachstelle führte dazu, dass in Deutschland die Legislative durch die Exekutive unterwandert und durch diese geprägt werden kann. Das unterminiert die Gewaltenteilung: In Deutschland entscheidet die Exekutive durch den Bundesrat bei sehr vielen grundsätzlichen Angelegenheiten mit. Außerdem gehören die Mitglieder der Regierungen in der Regel den jeweiligen Parlamenten an – also zwei Gewalten! Wenn man, wie Wirtschaftsminister Philipp Rösler, nicht über ein Bundestagsmandat verfügt, wird das sogar als Schwäche angesehen.

Dass die Exekutive über eine folgsame Legislative verfügt, ergibt sich aus dem Parteiensystem: Exekutive ist die Parteiführung, die im Listenwahlsystem über die Chancen der Abgeordneten zur Wiederaufstellung entscheidet. Indem das Parlament nicht nur die Regelung neuer Gesetze beschließt, sondern auch Vorschriften, die sich als Verordnungen, Verwaltungsanweisungen und Einzelbefehle qualifizieren, übernimmt es Tätigkeiten der Exekutive. Durch diese Vermischung stehen Legislative und Exekutive nicht unbedingt unter dem Recht, weil sie die Regeln ändern können. Hinzu kommt, dass nur das Bundesverfassungsgericht eine Art Selbstverwaltung genießen darf; alle anderen Gerichte werden durch die Justizminister verwaltet. Damit sind qua Dienstaufsicht die einzelnen Richter der Macht der Justizminister ausgeliefert. Der Ministerpräsident des Saarlandes ernannte sich im November 2009 sogar selbst zum Justizminister und demonstrierte damit seinen mangelnden Respekt gegenüber der Gewaltenteilung.

Auf der Internetseite der Kanzlerin wurde unser parlamentarisches System für Kinder so erklärt: „Das heißt auf gut deutsch: Wir wählen eine Regierung. Und diese Regierung sowie die ihr angeschlossenen Behörden, von der Polizei bis zur Richterin, sind allein berechtigt, Gewalt auszuüben.“ Die einzige Gewalt ist die Regierung – von Gewaltenteilung ist nicht die Rede. Zufall oder Absicht?

Aktuell erleben wir den enormen Druck, der von der Regierung, speziell Finanzminister Schäuble, auf das Bundesverfassungsgericht ausgeübt wird, damit es den ESM passieren lässt. Spricht man mit Bundestagsabgeordneten, hört man die Überzeugung, dass es keinen Widerspruch aus Karlsruhe geben wird, bestenfalls Bedingungen für weitere Euro-Rettungsvereinbarungen. Es herrscht eine Stimmung, die schon 1973 von einem Fraktionssprecher der Regierungspartei über das Bundesverfassungsgericht artikuliert wurde: „Wir lassen uns doch von acht Arschlöchern in Karlsruhe nicht unsere Politik kaputtmachen.“

 

Vera Lengsfeld gehörte zur DDR-Bürgerrechtsbewegung. Von 1990 bis 2005 saß sie im Bundestag.


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