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29.09.12 / Heilende Krankheit / Autistischer Junge lässt Studenten aufleben

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-12 vom 29. September 2012

Heilende Krankheit
Autistischer Junge lässt Studenten aufleben

„Suche motivierten jungen Mann für die Betreuung eines besonderen Jugendlichen während eines Aufenthalts mit seiner Mutter in Horville (Calvados)“: Mit diesen Worten beginnt Philippe Grimberts Roman „Ein besonderer Junge“, der sich mit seinen 180 Seiten als perfekte Lektüre mit Tiefgang erweist.

Und mit dieser Anzeige beginnt auch ein Abenteuer für den Studenten Louis. Nachdem sein Vater ihm gedroht hat, den Geldhahn zuzudrehen, sattelt der Pariser Student von den „brotlosen“ Geisteswissenschaften auf Jura um. Im Leben gelingt dem Unentschlossenen nicht viel. Er kapselt sich ab, Freundschaften oder Liebesbeziehungen Fehlanzeige.

Doch die oben genannte Stellenanzeige interessiert Louis, der mit seinen Eltern in Horville früher Ferien gemacht hat. Der Vater von Iannis, so heißt der autistische Junge, um den sich „unser Held“ kümmern soll, entpuppt sich als ähnlicher Tatmensch wie Louis’ Vater. Hoch oben in seinem Büro im obersten Stock der Tour Nobel thront er als Personalchef über den Baustellen der Bürostadt La Défense. Seine Gattin ist schon interessanter, schließlich schreibt sie spezielle Romane, wie ihr Mann abwertend sagt. Gemeint sind erotische Bücher.

Der Autor Philippe Grimbert kennt sich mit autistischen Kindern und Jugendlichen aus, da er als Psychoanalytiker mit einem Schwerpunkt in der Jugendpsychatrie tätig ist. Iannis ist ein schöner Junge, mit dem seine Eltern nicht mehr fertig werden. Im Laufe der Zeit fasst er Zutrauen zu seinem Betreuer, auch wenn er ihm einige ziemlich haarsträubende Situationen zumutet. Iannis kann nicht sprechen, er lebt in seinem eigenen Universum, die Angst vor dem Fremden ist sein ständiger Begleiter. Wenn er sein Essen auf dem Tisch verteilt, sein Bett mit dem eigenen Kot verschmiert und zu völlig unvorhersehbaren Aktionen neigt, dann stellt man sich unweigerlich die Frage: Wie würde man selbst mit einem solchen Kind umgehen? Louis gewinnt Iannis lieb, gerade weil er so anders ist und andere scheinbar nicht in seine eigene Welt einlässt. Am Ende des Romans entflieht er mit ihm, wenn auch nur für ein paar Tage, aus der realen Welt, denn Iannis’ Mutter und Vater wollen ihren Sohn in eine geschlossene Einrichtung in Belgien stecken. Kann man deshalb den Stab über sie brechen? Insbesondere die Mutter krankt daran, dass sie häufig keinen Zugang zu ihrem Sohn gewinnt. Derweil reift Louis in diesem Sommer. Er überwindet die Gespenster der Vergangenheit und alte Ängste, die aus einem Urlaub resultieren, den er in Horville als Kind verbracht hat.

Auf sehr wenigen Seiten gelingt Grimbert sehr viel: Er gewährt uns einen Einblick, wie Geist und Seele eines „kranken“ Kindes, das an Autismus leidet, funktionieren. Er lässt uns teilhaben am sexuellen Erwachen von Louis. Und am Rande bekommen wir noch etwas mit von dem Leben der Väter von Iannis und Louis, zwei Tatmenschen, die dabei am Sinn des Lebens sozusagen vorbeileben. Dieses Buch ist ein Glück. Ansgar Lange

Philippe Grimbert: „Ein besonderer Junge“, dtv, München 2012, broschiert, 176 Seiten, 14,90 Euro


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