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13.10.12 / Pilgerfahrt zu sich selbst / Immer mehr Menschen gehen den Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Was sind die Beweggründe?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-12 vom 13. Oktober 2012

Pilgerfahrt zu sich selbst
Immer mehr Menschen gehen den Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Was sind die Beweggründe?

Im letzten Jahr waren geschätzt 200000 Menschen auf der Wanderung nach Santiago de Compostela. Noch nie zuvor haben sich so viele Pilger auf die Spuren des heiligen Apostels Jakobus begeben, der der Legende nach in Galicien begraben sein soll. Nicht immer sind es religiöse Motive, die Menschen vieler Konfessionen dazu bewegen, den strapaziösen Fußmarsch auf sich zu nehmen. Innere Einkehr, Meditation oder schlicht Abenteuerlust treibt sie dazu an.

„Ich kenne euch erst seit zwei Stunden, aber ich habe das Gefühl, euch schon mein ganzes Leben zu kennen“, sagt Kayla und beugt sich wieder über den dunk­len Eichentisch. Hinter ihr funkeln die lackierten Kieselsteine, die zusammen mit großen Zapfen einer spanischen Fichte die Deko auf der Kommode bilden. Jemand sagt etwas, alle am Tisch fangen an zu lachen, es wird gestichelt. Man spricht Englisch.

Stunden später. „Immer wenn man sich fragt, warum man weitermachen soll, zeigt der Camino eine neue Seite von sich“, sagt Dilek und schiebt die Postkarte auf dem Tisch vor sich hin und her. Sie zeigt zwei verschränkte Hände, runzelig, alt.

Momentaufnahmen aus einer kleinen christlichen Albergue, das spanische Wort für Herberge. Ebenso Teil des Camino de Santiago, sprich des Jakobswegs, wie die großen Albergues, die eher an Riesenfeldlager erinnern und über 150 Betten aufweisen. Stock­betten, wie in Jugendherbergen. 

„No pain, no glory“. Das heißt so viel wie „Ohne Schmerz auch keine Ehre“ und ist der meistzitierte Spruch des Caminos. 17 Blasen an den Füßen und ein überdehnter Knöchel ist das Fazit einer zweiwöchigen Pilgerreise. Doch auf dem Camino hilft immer irgendjemand. Das ist etwas, was man schnell lernt.

Ein österreichischer Pharmaziestudent verschenkt einfach so eine Packung Schmerztabletten und eine Tube Schmerzgel; eine Amerikanerin ihr gesamtes Blasenheilset samt Erklärung und Demonstration. Andere die Ohrstöpsel. Jeder verschenkt, was und wie viel er zu geben hat. Das tägliche Laufen macht süchtig. Nicht glücklich, das nicht. Aber trotzdem süchtig. Denn jeden Tag fragt man sich aufs Neue „Wie bescheuert bin ich eigentlich? Warum tue ich mir das an?“ Und jeden Tag nimmt man sich aufs Neue vor abzubrechen. Im Endeffekt gehen alle weiter. Doch was ist es, das diesen Pilgerweg so besonders macht?

Es ist die Gemeinschaft. Selbst wenn man keinen kennt, man lernt mit der Zeit viele Menschen kennen. Frauen, Männer, Alte, Junge, Deutsche und Koreaner, Ungarn und Franzosen – ganz egal. Es sind die Menschen, die den Weg unvergesslich machen. Es sind die Menschen, die im Gedächtnis bleiben, die einen verändern.  

Außerdem läuft einem auch der eigene Stolz über den Weg.

 Und das in verschiedensten Variationen: Jeder ist zu stolz, nach Hause zu kommen und zu gestehen, dass man abgebrochen hat. Und der abschließende erfüllende Stolz, die Urkunde in Händen zu halten, die jeder Pilger in Compostela erhält und die bescheinigt, dass man den Weg gegangen ist.

Außerdem der Stolz nach jeder überstandenen Etappe, nach jedem Berg, den man herauf- und wieder heruntergeklettert ist.

Und dann gibt es noch die Landschaft. Auf den letzten 260 Kilometern wechseln sich fast kahle Steppe mit blühender Heide, Weinfelder mit Obstplantagen ab. Der Pilger steigt auf 1700 Meter hoch und genießt einen wundervollen Ausblick, nur um sich am nächsten Tag  stöhnend und jammernd wieder an den Abstieg zu machen.

Ganz ungefährlich ist das nicht. Es sind schon Pilger dabei zu Tode gekommen. Davon zeugt der neue Kinofilm „Dein Weg“, in dem Hollywood-Star Martin Sheen den Weg seines beim Camino tödlich verunglück­ten Filmsohns fortsetzt.

Überhaupt ist der Camino auch dank Büchern von Paulo Coelho oder Hape Kerkeling moderner und jünger geworden. Überrachend vielen Teenagern und Studenten begegnet man. Wer diesen Weg geht, entdeckt vieles neu: andere Menschen, die Kultur und vor allem sich selbst. Egal, ob er einem gefällt oder nicht, jeder sollte ihn einmal im Leben gegangen sein.             Leonie Glitz


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