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13.10.12 / Erinnerungen an die Hölle / Ehemalige SBZ-Häftlinge berichten über Gründe ihrer Verhaftung und Historiker beleuchten die Hintergründe

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-12 vom 13. Oktober 2012

Erinnerungen an die Hölle
Ehemalige SBZ-Häftlinge berichten über Gründe ihrer Verhaftung und Historiker beleuchten die Hintergründe

In dem NDR-Film „Der Mauerschütze“ von 2010 erzählt eine Frau ihrer Tochter, dass deren Vater bei einem Fluchtversuch an den Grenzanlagen erschossen worden sei. Dabei macht sie sich heftige Vorwürfe, hat sie ihren Mann doch zur Flucht gedrängt. Um zu trösten, entgegnet die Tochter: „Wen interessieren die alten Geschichten noch?“

Sollte diese Erzählung ein Phantasieprodukt sein, so spiegelt sie doch vorzüglich unsere Wirklichkeit: Unsere Jugend ist wenig aufgeschlossen für das, was damals an Schrecklichem geschah. Sind wir nicht versucht zu resignieren? Die weit besseren Argumente sprechen dagegen, insbesondere: Die DDR war immer ein Teil Deutschlands. Also geht es um deutsche Geschichte, um unsere Geschichte. Das Leiden der Unschuldigen ist eine Verpflichtung an die nachfolgenden Generationen, alles zu tun, um eine Wiederholung zu vermeiden. Und schließlich: Dieses Leiden wurzelt in einer Ideologie, die bei näherer Betrachtung ihre Inhumanität rechtzeitig verraten hat und dennoch weiterlebt.

Der von Gerald Wiemers und der Lagergemeinschaft Workuta/Gulag herausgegebene Buchtitel „Der frühe Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands SBZ/DDR“ könnte so verstanden werden, als ginge es um Widerstandshandlungen, wie wir sie von der Roten Kapelle und den Männern des 20. Juli 1944 her kennen. Davon kann nicht die Rede sein. Harmlose Versuche, auf einen demokratischen Neubeginn hinzuwirken, wurden wie Kapitalverbrechen geahndet. Daher nimmt es nicht wunder, dass alle, deren „Widerstand“ geschildert wird, inzwischen rehabilitiert worden sind.

Die knapp 20 Beiträge bieten ein vielfältiges Bild: So liefert Karl Wilhelm Fricke einen Überblick über den „frühen Widerstand in der SBZ/DDR“. Annerose Matz-Donath geht es um „Deutsche Studentinnen im Mahlstrom der Sowjetmacht“. Andere Beiträge beschränken sich auf „Opposition, Widerstand und Verfolgung“ an einzelnen Universitäten, so Halle-Wittenberg und Leipzig. Daneben stehen die Schilderungen von Einzelschicksalen, so des Mediziners Horst Hennig, später Generalarzt der Bundeswehr, Hans Günter Aurich und Jutta Erbstößer. Hennig war Teilnehmer der Gefangenenmeuterei in Workuta 1953, die mit „Feuer aus den Maschinenwaffen“ beendet wurde. „Über mir liegend verblutete ein litauischer Jesuitenpater“, erinnert sich Hennig.

Mit Michail Semiryaga kommt ein Mann zu Wort, der damals im Unterdrückungsapparat der Roten Armee gedient hat. Er schildert glaubhaft, dass die Rote Armee zunächst gewaltsamen Widerstand seitens der deutschen Bevölkerung befürchtet hatte. Doch dazu kam es kaum. Motive für Übergriffe der Besatzer waren Besitzgier, Rache, Arbeitskräftebedarf, Übereifer. Semiryaga endet mit dem Satz: „Ich musste Zeuge sein, wie einige Leiter der Sowjetischen Militäradministration beschlossen, den Geheimdienst heranzuziehen, etwa zugunsten der SED im Wahlkampf oder bei der Isolierung unbequemer ‚Elemente‘ in der einen oder anderen politischen Partei.“

Leonid Kopalin, ein weiterer ehemaliger Angehöriger der Roten Armee, war zuletzt Leiter der Abteilung Rehabilitierung ausländischer Staatsbürger. „Die reale Möglichkeit, der Pflicht gegenüber den unschuldig Betroffenen … nachzukommen, ergab sich erst im demokratischen Russland“ und nicht schon in der Nach-Stalin-Ära. Von den mehr als 17000 Anträgen deutscher Staatsangehöriger auf Rehabilitation waren annähernd 10000 erfolgreich, auch der zugunsten des ehemaligen Militärgeistlichen H. Kühle, der im Mai 1950 zu 25 Jahren Freiheitsentzug verurteilt worden war, weil er auf Ostern im Lager ein Gebet gesprochen hatte, was als „antisowjetische und revanchistische Propaganda gewertet wurde“, so eines der Beispiele, die Kopalin berichtet.

Anna Kaminsky vergleicht „die Auseinandersetzung mit den kommunistischen Diktaturen“ heute in den Staaten Europas. „Nicht nur in Deutschland, auch auf europäischer Ebene schwelt eine untergründige Konkurrenz der Erinnerung, in der das westliche Holocaustgedächtnis mit dem östlichen Gulag-Gedächtnis nur schwer vereinbar scheint.“ Auch Opfer und ihre Hinterbliebenen sind nur Menschen. Konrad Löw

Gerald Wiemers (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit der „Lagergemeinschaft Workuta/Gulag“: „Der frühe Widerstand in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands SBZ/DDR“, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2012, 186 Seiten, 24 Euro


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