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27.10.12 / Freiheit von kosmischer Dimension / Gewalt als Grundlage: Große Europarats-Ausstellung in Berlin zeigt, wie sich Künstler die Freiheit in Europa seit 1945 erklären

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-12 vom 27. Oktober 2012

Freiheit von kosmischer Dimension
Gewalt als Grundlage: Große Europarats-Ausstellung in Berlin zeigt, wie sich Künstler die Freiheit in Europa seit 1945 erklären

Eine umfangreiche Ausstellung im Deutschen Historischen Museum von Berlin will die Besucher jetzt dazu verführen, über Freiheit und Demokratie nachzudenken. Aufgeboten ist Kunst aus Europa seit 1945, geschaffen von 113 Künstlern. Sie kommen aus 40 Mitgliedsländern des Europarats, der 1949 gegründet wurde, um in ganz Europa die Achtung vor den Menschenrechten, der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sicherzustellen. Der Europarat ist der Veranstalter der Ausstellung.

Das Besondere an der Schau „Verführung Freiheit“ ist, dass sie erstmals europäische Kunst seit 1945 ohne die bisher üblichen ideologischen Scheuklappen ins Visier nimmt, die der Kalte Krieg zwischen östlichem Sozialismus und westlichem Kapitalismus mit sich gebracht hat. Sie will die Gemeinsamkeiten einer Kunst aufzeigen, die die Blockbildung unterlief und sich dem Staats- oder auch Anpassungsdruck entzog, wie Horst Bredekamp in seinem Katalogaufsatz schreibt. Ausstellungskuratorin Monika Flacke erklärt: „Ausgehend von der These, dass die Freiheit der Kritik soziale und politische Krisen bewältigen hilft, ist das große Thema der Ausstellung ,Freiheit‘. Wie wird dieser Begriff gedeutet, verstanden und verteidigt?“

Beim Betreten der Ausstellung leuchtet uns in den Farben der französischen Trikolore eine von Ian Hamilton Finlay geschaffene Neonschrift entgegen: „Je vous salue Marat – Gegrüßet seist Du Marat“ (1989). Wie ein Erlöser wird Jean Paul Marat – eine der radikalsten und blutrünstigsten Gestalten der Französischen Revolution – mit weihevoller Ironie angerufen. Finlay erinnert uns also daran, dass die Durchsetzung der von der Französischen Revolution postulierten Werte – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – eine Schreckensherrschaft heraufbeschwor. Der in der Schau präsentierte Werkkommentar lautet: „Die abstrakte Idee der Freiheit kann zur Gefahr für die Freiheit selbst werden, denn sie birgt bereits die Gefahr des Missbrauchs in sich.“

Schrecken und Gewalt als Vorläufer der Freiheit sind ein Thema, das viele Künstler der Schau beschäftigt hat. Der von Jean Fautrier mit Öl und Pigment geschaffene „Partisanenkopf“ (1957) ist ge­sichtslos und sieht aus wie erstarrter Brei. Der vom brutalen Vorgehen der sowjetischen Militärs gegen die Budapester Demonstrationen im Oktober 1956 schockierte Künstler fertigte das Werk zu Ehren der ungarischen Wider­ständler an. Zu­gleich schlägt er einen Bogen zum französischen Widerstand gegen die NS-Herrschaft. Denn am unteren Bildrand zitiert er aus einem der Gedichte der Résis­tance von Paul Eluard: „Auf alle leeren Seiten / ... / Schreib ich deinen Namen Freiheit.“

Dann zieht Anselm Kiefer mit einem Tabubruch die Blicke auf sich. Sechs schwarzweiße Fotografien aus der Serie „Besetzungen“ (1969) zeigen Kiefer etwa vor dem Colosseum oder in Montpellier mit zum Hitlergruß hochgerecktem Arm. Damit wollte Kiefer die deutsche Öffentlichkeit zur Auseinandersetzung mit ver­drängter Ge­schichte provozieren.

Brandneu ist schließlich Nikita Kadans Serie „Verhörzimmer“ (2010). Sie besteht aus Porzellantellern mit nüchternen Umrisszeichnungen. Doch die haben es in sich: Sie zeigen Anleitungen zu diversen Foltermethoden. Kadan ist Ukrainer. Er klagt an, dass in seinem Land noch immer gefoltert wird.

Andere Künstler nehmen das Konsumverlangen und die freie Marktwirtschaft in den Blick. Milan Kuncs Gemälde „Pravda Coca-Cola“ (1978) verfremdet ein Titelbild der Zeitung. Eine enthusiastische Menschenmenge folgt einer roten Fahne mit der Aufschrift „Coca-Cola“. Das „C“ ist jeweils aus Hammer und Sichel gebildet. In Osteuropa repräsentierte die Marke Coca-Cola die kapitalistische Welt. War es deren Warenüberfluss, der die westliche Demokratie so verlockend er­scheinen ließ?

So überwältigend wie penetrant präsentiert uns Andreas Gursky auf seinem über drei Meter breiten Farbfoto „99 Cent II“ (2001) prall und quietschbunt gefüllte Warenregale. Sie stehen in einem Billigladen, in dem kein Artikel mehr als 99 Cent kostet. Selbst für die „Armen“ gibt es also Waren in Hülle und Fülle – ist das ironisch gemeint?

Besonders beachtenswert sind schließlich die Werke, die sich Grundfragen der Existenz widmen oder das Leben von einer höheren Warte aus betrachten. Armans Beitrag „Minuten“ (1991) besteht aus einem Setzkasten mit 100 gleichartigen Weckern. Alle sind zu einem anderen Zeitpunkt stehen geblieben. So will Arman die von den Menschen „konstruierte“ Zeit mit ihren Zwängen und Verbindlichkeiten des streng durchgeplanten Tagesablaufs außer Kraft setzen.

Aber letztlich läuft die Lebenszeit eben doch gnadenlos ab, wie Roman Opalka eindringlich vor Augen führt. Von 1965 bis zu seinem Tod 2011 bemalte er Bilder mit Zahlenkolonnen. Zwei Beispiele sind ausgestellt. Die von ihm gemalte genetische Zahlenprogression bezeichnete Opalka als „eine aus der menschlichen Winzigkeit im Weltall hervorgebrachte Größe“. An einem Langzeitprojekt arbeitete auch Julius Koller, der sich von 1970 bis 1996 jedes Jahr in einer anderen komischen Aufmachung als „U.F.O.-naut J.K.“ fotografieren ließ. Koller: „Ich glaube, wir Menschen sind nicht nur irdische, sondern auch außerirdische Wesen.“

Am Ende des Rundgangs begegnen wir Erik Bulatovs Gemälde „Selbstporträt (Kein Eingang)“ (1973). Der Künstler zeigt sich vor einer weißen Wand mit einer roten Aufschrift, die aus dem russischen übersetzt „Kein Eingang“ lautet. Sie bezieht sich da­rauf, dass die hergebrachten Ideologien keinen Zugang zum Kopf des Künstlers haben. Er steht da wie ein Delinquent mit einem Loch zwischen seinen Augen. Es lässt uns in unendliche blaue Tiefen blicken. Signalisiert es geistige Freiheit von geradezu kosmischen Dimensionen? Monika Flacke kommentiert: „Die Phantasie kennt keine Grenzen. Auch die Vernunft war einst eine Idee, die im Kopf entstanden ist.“ Veit-Mario Thiede


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