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01.12.12 / Christa Wolfs Nachlass / Eine Vertriebenenerzählung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-12 vom 01. Dezember 2012

Christa Wolfs Nachlass
Eine Vertriebenenerzählung

Die Schülerin Christa Ihlenfeld war fast 16 Jahre alt, als sie mit Eltern und Bruder aus ihrer Heimatstadt Landsberg an der Warthe in der Neumark über die Oder nach Mecklenburg floh. Unter dem Titel „Blickwechsel“ schrieb sie 1970, als sie schon die bekannte Schriftstellerin Christa Wolf war, über diesen Tag: „Es war jener kalte Januarmorgen, als ich in aller Hast auf einem Lastwagen meine Stadt in Richtung Küstrin verließ und als ich mich sehr wundern musste, wie grau diese Stadt war, in der ich immer alles Licht und alle Farben gefunden hatte, die ich brauchte. Da sagte jemand in mir langsam und deutlich: Das siehst du niemals wieder.“ Vier Jahre später, 1976, hat Christa Wolf ihre Erfahrung des Heimatverlusts im Roman „Kindheitsmuster“ verarbeitet, der von der Literaturkritik ihres Landes heftig kritisiert wurde, weil sie auch das Thema Vergewaltigung deutscher Frauen durch Rotarmisten berührt hatte.

Wolf starb am 1. Dezember 2011. Ein halbes Jahr zuvor hatte sie, als Geschenk für ihren Ehemann Gerhard zum 60. Hochzeitstag, die Erzählung „August“ abgeschlossen, worin ein Erzähl­strang des Romans von 1976 fortgeführt wurde. August ist ein achtjähriger Flüchtlingsjunge aus einem ostpreußischen Dorf, der seinen Nachnamen nicht kennt, dessen Vater vermisst ist und dessen Mutter bei einem Angriff feindlicher Flieger in Hinterpommern auf den Flüchtlingszug getötet wurde. Er kommt als Waisenkind nach Mecklenburg, wo er in einer Lungenheilstätte unterkommt. Das Schloss, dessen Bewohner geflohen sind und in dem das Notkrankenhaus untergebracht ist, liegt in der Nähe des Ostseebades Boltenhagen.

Das alles wird aus der Erinnerung eines 65-jährigen Busfahrers erzähl. Er ist das einstige Flüchtlingskind, das 2002 mit einer Ladung fröhlicher Rentner von Prag über Dresden nach Ost-Berlin unterwegs ist. Was die Reiseleiterin im Bus an Geschichtswissen zu vermitteln hätte, interessiert keinen: Die Leute der Rentnertruppe wollen einander nur zeigen, was sie in Prag billig eingekauft haben!

In Berlin angekommen, stellt August den Bus ins Depot und fährt mit seinem alten „Volkswagen“ nach Berlin-Marzahn in die „Platte“, wo er seit Jahrzehnten wohnt. Er ist kinderlos, seine Frau Trude ist vor zwei Jahren gestorben, er ist einsam, dennoch wird über ihn gesagt, dass er „Glück“ empfände, wenn er es denn ausdrücken könnte.

Das ostpreußische Kolorit in diesem offensichtlich rasch und unreflektiert niedergeschriebenen Text bleibt weitgehend ausgespart: August ist kein „Heimwehtourist“, wie viele andere aus seiner Generation. Seine ein Jahr ältere Frau Trude, die aus dem Spreewald stammt und in der Kaufhalle arbeitete, machte ihm einmal Königsberger Klopse, das ist alles. Nur am Anfang des Erinnerungsstroms, der August auf der Rückfahrt nach Berlin begleitet, wird öfter Ostpreußen erwähnt, aber die Erinnerung schwindet zusehends. Im Frühjahr 1946 wird August in ein Waisenhaus gebracht, sein weiterer Lebensweg bis zum Jahr 2002 wird nur angedeutet. Das ist herzlich wenig für ein ostpreußisches Schicksal und für eine bedeutende Schriftstellerin, die sich dessen angenommen hat. Jörg Bilke

Christa Wolf: „August“, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt/Main 2012, broschiert, 45 Seiten, 14,95 Euro


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