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08.12.12 / Wählerwille steht vor Eigennutz der Parteien

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-12 vom 08. Dezember 2012

Gastbeitrag
Wählerwille steht vor Eigennutz der Parteien
von Eberhard Hamer

Nach dem derzeitig geltenden Wahlrecht wird die Hälfte der Bundestagsabgeordneten in Direktwahlkreisen gewählt – jeweils, wer dort die Mehrheit gewonnen hat. Die andere Hälfte der Abgeordneten rückt über von den Parteien aufgestellte Landeslisten in den Bundestag, je nach den Prozenten, welche die Parteien mit Zweitstimmen im jeweiligen Bundesland erworben haben. Dabei kam es allerdings zu Ungleichgewichten, wenn eine Partei mehr direkte Wahlkreise erringen konnte, als ihr prozentual zustanden. Dies wurde durch sogenannte „Überhangmandate“ ausgeglichen – zur Zeit 24, um welche sich dadurch die Gesamtzahl der Abgeordneten erhöhte.

Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich das Berechnungssystem der Überhangmandate für verfassungswidrig erklärt und dem Bundestag eine Korrektur aufgegeben. Sofort entstand Streit unter den Fraktionen, welche ihre derzeitigen Pfründe nicht gefährdet haben wollten. Entsprechend wurden einfache Lösungen wie beispielsweise die Einführung nur noch des Mehrheitswahlrechts in den Wahlkreisen (wie in Großbritannien) oder ein reines Verhältniswahlrecht (Parteilisten wie bei der Europawahl) abgelehnt. Die Mehrheit der „staatstragenden“ Fraktionen – gegen die Linken – will das Problem jetzt mit der Vergrößerung des Bundestages von derzeit 620 auf etwa 750 lösen. Gegen eine Reduzierung des Bundestages – was jedem Abgeordneten mehr Gewicht geben würde und außerdem billiger wäre – sind jedenfalls alle.

Dabei wäre aus mehreren Gründen eine ebenso mögliche Reduzierung der Bundestagsmandate wie der derzeitigen Überhangmandate die demokratischste, sauberste und gerechteste Lösung.

Von allen Wahlberechtigten gehen nicht einmal mehr 60 Prozent überhaupt zur Wahl, üben also über 40 Prozent der Wähler ihr Wahlrecht nicht mehr aus. Die Parteien behaupten, dies sei Desinteresse. Demoskopen jedoch haben herausgefunden, dass bei den meisten Nichtwählern Unzufriedenheit mit dem herrschenden Parteienkartell oder sogar Protest gegen die von diesen Parteien über die Köpfe der Wähler hinweg betriebene Politik vorliegt. Das zeigt sich deutlich am Beispiel der ESM-Abstimmung. Das Kartell der vier „staatstragenden“ Parteien hat gegen den Willen von über 80 Prozent der deutschen Wähler mit der Annahme des ESM die Schulden Europas übernommen, und das in einer Größenordnung, die selbst unsere Kinder und Kindeskinder noch büßen lässt. Der Wähler konnte es nicht verhindern, kann nur sauer sein und diese Parteien nicht mehr wählen. Seine Wahlenthaltung ist also nicht unüberlegt, sondern möglicherweise sogar politisch reifer als das Euroholikerverhalten der Parteien.

Der Wählerprotest muss – soll das Wahlrecht gerecht sein – auch im Ergebnis der Wahl, also auch in der Zahl der Abgeordnetenmandate, zum Ausdruck kommen. Die Zahl aller Abgeordneten muss also entsprechend der Wahlbeteiligung 40 Prozent geringer als die Maximalzahl der Abgeordneten sein. Wenn nur 60 Prozent der Wähler ihre Stimme abgeben und eine Partei wählen, dürfen auch nur 60 Prozent der zur Verfügung stehenden Mandate besetzt werden. Wenn zum Beispiel bei einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent eine Partei die Hälfte aller abgegebenen Stimmen bekommt, darf sie nicht 50 Prozent aller möglichen Sitze haben, sondern nur 50 Prozent der abgegebenen Stimmen, also 30 Prozent. Der Bundestag wäre dann nicht zu 100 Prozent besetzt, sondern nur zu 60 Prozent. Diese mögliche Reduzierung von Fehlmandaten durch Nichtwähler statt durch Überhangmandate würde nicht nur den Nichtwählern gerecht werden, sondern auch die Parteien antreiben, für möglichst hohe Wahlbeteiligung zu sorgen, was ihnen jetzt egal sein kann, weil Nichtwähler letztlich ihr Vorteil sind. Ein Wahlrecht, was nur Überhangmandate, nicht aber Fehlmandate vorsieht, ist also ungerecht, ist Wahlverfälschung und Verhöhnung der protestierenden Nichtwähler.

Es wird endlich Zeit, dass im Sinne echter Demokratie die Ergebnisse der Wahl auch dem Wahlumfang angepasst werden – nach oben wie nach unten. Die parlamentarische Suche nach einer Lösung für die Überhangmandate muss also auch Gerechtigkeit für die Nichtwähler schaffen. Nicht das Parlament ist konstant und die Wähler variabel, sondern das Parlament muss ebenso variabel sein wie seine ihn tragenden Wähler.

Die Abstimmungsskandale um den ESM haben nämlich auch gezeigt, dass es nicht auf die Masse der Abgeordneten ankommt, sondern auf eine kleine Clique von Parteispitzen, die das Ergebnis unter sich auskungeln und sogar wütend sind, wenn ein Abweichler einmal öffentlich seine abweichende Meinung im Bundestag zu sagen wagt.

Und wie rücksichtslos die Parteien mit dem Wählerwillen umgehen, hat ebenfalls der ESM gezeigt: Nicht nur die Regierungskoalition nimmt auf 80 Prozent des Wählerwillens keine Rück­sicht mehr, auch die Opposition hat sich dem Diktat der internationalen Hochfinanz gerne gebeugt und ihre Sozialklientel zur Ausbeutung für die Sanierung der internationalen Zockerbanken und europäischer Pleiteländer freigegeben, denn Hauptzahler des ESM sind Deutschland, seine Bürger, die breite Masse der deutschen Wähler. Ein so ferngelenktes Parteiensystem darf nicht durch Vergrößerung honoriert werden, sondern müsste auf die Wählerprozente geschrumpft werden, die tatsächlich noch diese Parteien zu wählen bereit sind.

Die Euroholiker Schäuble, Steinbrück und Trittin betreiben zudem gemeinsam eine Entmachtung des deutschen Parlaments zugunsten der Zentralisierung in Europa (Fiskalunion, Haftungsunion, Eurobonds). Das Parlament soll also immer weniger Entscheidungskompetenzen behalten, weil diese nach Brüssel an nicht gewählte Kommissare zentralisiert werden sollen. Einem Parlament mit abnehmendem Wähleranteil und abnehmenden Kompetenzen kann man aber nicht durch Vergrößerung, sondern nur durch Schrumpfung und Senkung seiner Kosten gerecht werden. Wenn schon 84 Prozent aller Regelungen von Brüssel diktiert werden, die vom Bundestag nur noch pflichtgemäß „umgesetzt“ werden dürfen, braucht man für diesen zwanghaften Zustimmungsakt nicht mehr Abgeordnete, sondern eher weniger. Das Problem der Überhangmandate muss also nicht nur expansiv, sondern auch kontraktiv diskutiert und gelöst werden. Das mag dem Eigennutz der Parteien widersprechen, läge aber im Sinne der Wähler, unserer Demokratie und parlamentarischer Gerechtigkeit.

 

Eberhard Hamer ist Professor für Wirtschafts- und Finanzpolitik und gilt als Begründer der Mittelstandsökonomie. Er ist Gründer und Leiter des privat geführten Mittelstandsinstituts Niedersachsen in Hannover.


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