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22.12.12 / Erste Nachkriegs-Weihnacht fern der Heimat / Der Verlust der Familie und die Flucht über das zugefrorene Haff zeichneten die alte Ostpreußin − Erst allmählich öffnete sie ihr Herz

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-12 vom 22. Dezember 2012

Erste Nachkriegs-Weihnacht fern der Heimat
Der Verlust der Familie und die Flucht über das zugefrorene Haff zeichneten die alte Ostpreußin − Erst allmählich öffnete sie ihr Herz

Sie saß andächtig neben mir auf der vollbesetzten Kirchenbank am Weihnachtsabend 1945. Ein schmächtiges altes Mütterchen, ihr Haar bedeckte ein geblümtes Schauertuch, wie es Frauen oft bei der Landarbeit im Osten trugen. Ihre dürren knochigen Finger hielten ein abgegriffenes Gesangbuch. Während des Weihnachtsliedes „O du fröhliche, o du selige, Gnaden bringende Weihnachtszeit“, hörte ich ihre helle Stimme heraus, sie klang fröhlich und hoffnungsvoll. Als das letzte Gebet gesprochen wurde und der Pfarrer der Gemeinde den Segen erteilte, begleitete den Heimweg der Gottesdienstbesucher der melodische Dreiklang der Glocken.

Sie ging vor mir in Stiefeln. Ihr langer Mantel, aus grauen Wehrmachtsdecken zusammengenäht, berührte die verharschte Schneedecke, die das Kopfsteinpflaster der Straße bedeckte. Der Stoff ihres Mantels war an einigen Stellen ziemlich abgenutzt und an den Nähten aufgegangen. Ich erahnte ihren beschwerlichen Fluchtweg. Im Gehen fragte ich sie, ob ich ihr einen sicheren Halt bieten könnte, denn ich sah, wie unsicher und tastend sie ihre kurzen Schritte auf die gefrorene Schneedecke setzte. Ein bitterkalter schneidender Wind blies uns die Schneeflocken ins Gesicht. Es wird ihr fest um den Kopf gebundenes Kopftuch gewesen sein und der ständig heulende Wind, der meine fragenden Worte nicht in ihr Ohr dringen ließ. Nun blieb sie stehen, und ich bot ihr nochmals meine Hilfe an. Sie schaute mir ein paar Sekunden lang freundlich in die Augen, als wenn sie dieses Entgegenkommen in der Fremde nicht erwartet hätte. Aus ihrem blassen faltigen Gesicht und ihren klaren blauen Augen las ich ein inneres Abwägen des Angebotes eines Unbekannten. Dann ergriff sie wortlos und vertrauensvoll meinen Arm, und wir gingen schweigend durch die fremde Stadt bis zu ihrem Heim.

Ihren kurzen Schritten passte ich mich an. Wir kamen nun miteinander ins Gespräch. Ihre Stimme konnte ich bei diesem wütenden Heulen des Windes kaum hören, denn sie sprach leise und langsam, ich musste schon meine Ohren spitzen. Dort, wo die Flüsse Memel und Ruß in das Kurische Haff mündeten, sei sie vor der Roten Armee mit ihren anrollenden Panzern und der Überzahl ihrer Krieger geflohen. Ich habe den Namen ihres Heimatortes vergessen. Erinnerlich blieb mir ihre Dankbarkeit, von der ihr Herz so erfüllt war, dass sie darüber einfach sprechen musste. Dankbarkeit darüber, dass sie nach langer und zermürbender Irrfahrt, nach Verlust ihres im Krieg gefallenen Mannes und ihrer beiden Söhne, ihrer Heimat, ihres Hofes und der Tiere hier wieder einen gesicherten Platz in der Altensiedlung fand und zur Ruhe gekommen ist. Ihr Leben habe noch einmal eine solche glückliche Wende genommen, und es gab Menschen, die es gut mit ihr meinten. Sie sprach mit mir wie eine Mutter mit ihrem Sohn. Manchmal ergriff sie meine Hand und schaute mir liebevoll ins Gesicht. Von ihrer Verwandtschaft lebte niemand mehr.

An einem klaren sonnigen Morgen Anfang 1945, bei klirrendem Frost, der die Zähne klappern ließ und die Finger in den Handschuhen und die Zehe in den Schuhen gefühllos werden ließ, haben sie fluchtartig ihre Heimat verlassen. Der Kanonendonner aus dem Osten kam immer näher. Mit ihren Nachbarn kauerte sie in doppelten Kleidern und in Decken gewickelt auf der mit Stroh ausgelegten Ladefläche ihres Treckwagens unter einer Zeltplane. So seien sie durch die letzte Öffnung der Frontlinie über das brüchige Eis des Frischen Haffes vor der Roten Armee aus Ostpreußen geflüchtet. Die mit Ästen abgesteckte Fahrbahn auf der Eisdecke riss plötzlich. Eine großflächige Eisscholle senkte sich vom Gewicht der Pferde und des Wagens in die Tiefe des Frischen Haffes. Die Pferde wieherten, bevor ihr Gespann von der Eisscholle langsam ins eiskalte Wasser rutschte. Der Nachtfrost konnte die Bruchstelle im Eis vom Vortag nicht genügend tragfähig verbinden. Dies sei ihnen zum Verhängnis geworden. Von ihrem Platz hinten im Wagen rief sie um Erbarmung.

Eine Flüchtlingsfrau, die neben ihren Pferden des nachfolgenden Treckwagens schritt, lief zu ihr, ergriff sie, zog sie vom Wagen kurz bevor die Räder ihres Treckwagens in die Tiefe auf den Grund des Frischen Haffes sanken. Sie sei dem Herrn so dankbar, dass er ihr die ausgestreckte Hand eines Engels schickte. Sie kenne den 91. Psalm und die Worte: „Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen, und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Diese Hoffnung begleitete sie durchs Leben. Trotz allem Schicksal, das sie erlebte, strahlte sie eine warme Gelassenheit aus, als sei sie versöhnt mit allem.

Ich führte sie am Arm bis zur Tür des Altenheims. Im Flur leuchteten die Kerzen am geschmückten Weihnachtsbaum und ich empfand den Geruch von würzigen Katharinchen und gebrannten Mandeln. Sie umarmte mich, mit drei Fingern berührte sie meine Stirn, meine Brust, die rechte, dann die linke Schulter, bedankte sich für meine Begleitung und wünschte mir Frieden und ein gesegnetes Christfest. − Eine Begegnung, die mir im zeitlichen Abstand von 67 Jahren bis heute in Erinnerung blieb. Siegfried. F. Wiechert


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