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22.12.12 / Das Geheimrezept / Familie Jablonowskis Marzipan war weit über die Grenzen Königsbergs hinaus bekannt − Herstellung nach strengem Ritual

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-12 vom 22. Dezember 2012

Das Geheimrezept
Familie Jablonowskis Marzipan war weit über die Grenzen Königsbergs hinaus bekannt − Herstellung nach strengem Ritual

Die Geschichte spielt in einer Zeit, als das Königsberger Marzipan begann, Weltberühmtheit zu erlangen. Entdeckt wurde sie in einem Buch, das in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Königsberg herausgegeben wurde.

Der Schriftsteller Hermann Bink hatte das Buch zusammengestellt als Sammelsurium heiterer Geschichten. Das er auch so betitelte: „Ostpreußisches Lachen“. Und im Untertitel tauchte schon die Königsberger Spezialität auf, um die sich diese Geschichte dreht: „Königsberger Marzipan und andere heimatliche Leckereien heiteren Inhalts“. Sie wird uns auch heute schmecken, leicht geändert und für unsere Leser neu aufbereitet, also praktisch „frisch geflämmt“, damit sie auf der Zunge zergeht wie Königsberger Marzipan. Schauplatz ist ein Haus am alten Blauen Turm auf dem Gesekusplatz in Königsberg dicht an der Schlossmauer gelegen, also mitten im Herzen der alten Krönungsstadt. Hier wohnte und wirkte Fräulein Katinka Jablonowski, kein unbekannter Name in Königsberg, in ganz Ostpreußen, ja im ganzen Deutschen Reich und darüber hinaus. Denn die Jablonowskis gehörten seit Generationen zu den Herstellern des bekannten Königsberger Marzipans. Das Rezept wurde innerhalb der Familie weitervererbt, aber erst, als es der Thronfolge nach in die Hände von Katinkas Großvater kam, erwarb es sich über Königsberg hinaus einen guten Ruf. Der kaufmännisch erfolgreiche Mann, Inhaber eines florierenden Transportgeschäftes, nahm das von seiner Familie hergestellte Marzipan mit auf seine ausgedehnten Reisen und knüpfte über seinen Ausfuhrhandel hinaus Verbindungen zu Partnern in Europa und Übersee. Fräulein Katinkas Vater war früh gestorben, lange vor seinem eigenen Vater. So war es gekommen, dass Katinka im Hause des Großvaters aufwuchs und schon sehr jung auf das Erbe vorbereitet wurde, das sie dann nach dem Tod des Großvaters übernahm. Der hatte ihr das Geheimnis der familieneigenen Marzipanproduktion in einer Aufzeichnung hinterlassen, die Katarina wie ihren Augapfel hütete. Bekannt war dagegen das alljährlich schon lange vor Weihnachten beginnende Ritual der Herstellung, die sich in einer geradezu dramatischen Handlung dreimal in der Woche in dem Haus am Blauen Turm vollzog. Auftretende Personen: Fräulein Katinka Jablonowski, ihre Cousine Anna und ein uralter Notar, den die Erbin von ihrem Großvater mit übernommen hatte. Gesamtdauer der Aufführung: vier bis fünf Stunden – also abendfüllend. Hauptrequisit: ein bauchiger Ofen, ein uraltes Erbstück, an Lebensjahren denen des Notars gleichzusetzen, dem ein eiserner Dreifuß aufgesetzt war und unter dem auf einem Spiritusbecken die nötige Hitze erzeugt wurde. Ehe die dramatische Handlung begann, zog der Notar seinen schwarzen Bratenrock an, der noch aus dem Biedermeier stammte. Auch die beiden Aktricen kostümierten sich mit einem langen, weißen, die Figur gänzlich verhüllenden Mantel und stülpten sich Hauben aus dem gleichen Stoff über den Kopf. Nun konnte die nach streng in fünf Akten gegliederte Handlung beginnen. Anfangsakt: Auf einem Stuhl am Ofen liegt das geheimnisvolle Rezept, ein derbes, vergilbtes und vergriffenes Papier, bedeckt mit allerlei krausen Namen und Ziffern in kräftiger männlicher Handschrift. Auf dem Tisch nebenan steht die Waage. Fräulein Katinka liest feierlich die Angaben für die Zutaten vor und gibt aus verschiedenen Blechbehältern die erforderliche Menge heraus, die Fräulein Anna dann abwiegt. Zweiter Akt: Der Notar tritt auf. Er prüft das Gewicht der naturreinen Haupt-Ingredienzien, notiert die Ergebnisse auf einem Folioblatt und bestätigt seine Übereinstimmung als königlich preußischer Notar unter Beifügung seines Amtssiegels zum Zwecke der Aufbewahrung bei seinen Akten. Das ist nötig für den Fall etwaiger Reklamationen der Kunden. Dann genehmigt er sich noch den bereits in ein Schnapsglas gefüllten Korn und geht ab durch die Mitte. Sein Auftritt ist damit beendet. Dritter Akt: Die beiden verbliebenen nunmehrigen Hauptaktricen mischen die einzelnen Zutaten und kneten die Masse, bis sie die gewünschte Konsistenz hat, die beide Damen einvernehmlich bestätigen müssen. Dann werden die schon bereit stehenden Formen und Förmchen – alle aus Jablonowskischem Familienbesitz – hervorgeholt und nach vorgegebenem Muster mit dem Teig gefüllt. Fräulein Katinka entzündet die Spiritusflamme, der Ofen wird allmählich warm. Fräulein Anna reicht ihrer Cousine die Formen zu, der Teig wird oberflächlich gebräunt – geflämmt − dann werden sie zur Seite gestellt. Vierter Akt: Jetzt muss Fräulein Anna für einige Zeit den Schauplatz verlassen, Fräulein Katinka hat nun ihren Soloauftritt und beherrscht somit allein die Szene. Sie legt die letzte Hand an das Werk, den letzten Trick, sie übt das Geheimnis aus, das niemand bekannt ist als ihr, durch das die Füllung den unnachahmlichen Jablonowskischen Geschmack bekommt, die berühmte Würze. Treue Kunden bestätigen immer wieder, dass sie wegen dieser unverwechselbaren Füllung nur dieses Königsberger Marzipan bevorzugen. Endlich Schlussakt: Fräulein Anna tritt wieder auf. Zu Hunderten werden die Förmchen auf den Tischen nebeneinander gestellt, in Reih und Glied wie preußische Soldaten. Katinka füllt sie, Anna belegt sie mit roten, grünen und gelben Geleestückchen, dann kommen die Gelatineblättchen auf die Herzen und sonstigen Figuren mit der Aufschrift „Königsberger Marzipan von Jablonowski“. Nach geraumer Zeit wird die kostbare Süßigkeit eingeschachtelt. Das Schauspiel ist aus, der Vorhang fällt – und hebt sich nach zwei Tagen zur nächsten Produktion. So ging es Jahr um Jahr in der Vorweihnachtszeit zu in dem Haus am Blauen Turm. Bis eines Tages etwas geschah, was die Dramaturgie der Jablonowskischen Darstellung jäh unterbrach und sie beinahe zu einer Tragödie werden ließ. Zuerst verlief alles nach gewohntem Ritus. Erster, zweiter und dritter Akt waren vorüber, der Notar hatte seine Pflicht und Schuldigkeit getan, seinen Kornus getrunken und sich verabschiedet. Annchen hatte den Ort des nunmehr geheimnisvollen Geschehens verlassen und nutzte gerne die Atempause, um sich in einem Nebenraum etwas auszuruhen. Da hörte sie auf der Treppe Schritte, die sich der Türe zur Produktionsstätte näherten. Sie stürzte hinaus, um zu verhindern, dass die fremde Person das Jablonowskische Geheimnis lüften konnte. Aber die hatte schon die Türe einen Spalt weit geöffnet und – ein gellender Schrei hallte durch das Haus. Zugleich drang ein beißender Brandgeruch aus der Marzipanwerkstatt und durchzog schnell das ganze Gebäude. Was war geschehen? Die fremde Person − die sich schnell als Freundin von Katinka aus deren Kinderzeit entpuppte und die nach Königsberg gekommen war, um ihre alte Gespielin zu besuchen – und Anna stürzten in das große Zimmer, hinter ihr die durch den Schrei und den mörderischen Gestank alarmierten übrigen Bewohner des Hauses. Sie sahen eine Feuersäule an der Fensterwand und davor eine weibliche Gestalt, die mit kräftiger Hand die an ihrem unteren Ende noch nicht brennende Gardine von der Stange riss und mit einem Kissen auf die Flammen einschlug. Es war Katinka, die – jäh aus ihrer geheimnisvollen Tätigkeit gerissen – durch ihr schnelles Zugreifen ein weiteres Ausbreiten des Feuers verhindern konnte, das durch den Luftzug beim Öffnen der Türe entstanden war, der die Gardine auf die noch nicht erloschene Spiritusflamme wehen ließ. Die eilig herbeigeholten Wassereimer einiger Mitbewohner verhalfen zum endgültigen Löschen der Glut. Auch die Freundin, eine resolute Bauerntochter, hatte die nächstliegenden Textilien ergriffen und wollte damit zuschlagen. Leider war es der Bratenrock des alten Notars, den er während der Zeit seiner Tätigkeit im Jablonowskischen Haus dort beließ und der noch nicht in den Schrank gehängt worden war. Auch er hatte einige Brandlöcher abbekommen wie Katinkes weiße Hülle. Nur Annas Mantel war blütenweiß geblieben wie Königsberger Marzipan. Die Cousine war überhaupt nicht in Aktion getreten, sondern hatte sich nach dem Betreten des Raumes auf einen Stuhl gesetzt und war regungslos zur Salzsäule erstarrt. Sie rührte sich auch nicht vom Fleck, als Katinka nach dem endgültigen Erlöschen des Brandes mit verrußtem Gesicht auf sie zustürzte und sie anschrie: „Warum huckst du da wie ein Flammfladen, hast wohl Angst, dich zu beschmieren!“ Nein, Anna saß da wie ein weißes Unschuldslamm und sagte mit sanftem Augenaufschlag: „Aber ich behuck’ doch man bloß das Rezept, dass es keiner ablesen kann!“ Ja, was war denn überhaupt das Geheimnis des berühmten Marzipans von Jablonowski? Kurz gesagt: Es gab überhaupt keines. Diese spezielle Süßigkeit wurde hergestellt nach dem Grundrezept für Königsberger Marzipan, aus gemahlenen süßen Mandeln, ein paar bitteren Mandeln, Puderzucker und Rosenwasser. Die Besonderheit ist das Flämmen des Marzipans. So wurde es auch in jeder ostpreußischen Familie hergestellt, in der das Marzipanbacken zum vorweihnachtlichen Brauch gehörte, mitunter auch heute noch. Und ehemalige Königsberger Konditoreien setzen mit ihren Marzipanköstlichkeiten die Jahrhunderte alte Tradition fort. Ja, wie war das aber mit dem Füllguss, dem eigentlichen Würzgeheimnis der Familie Jablonowski, das selbst Anna verborgen blieb? Nun, auch Katinka bewahrte es getreu bis an ihr Lebensende. Und diese Aufzeichnung soll nach ihrem Tode gefunden worden sein. Auch sie barg kein Geheimnis, denn Katinkas Großvater hinterließ seiner Enkelin und Erbin diese Zeilen: „Ich habe weiter gar nichts gemacht. Nur muss man immer so tun, als hielte man etwas zurück, denn das Geheimnis eines Geheimnisses und seine Macht über die Menschen besteht allein darin, dass man keins hat und doch eins zu haben behauptet. Handle genau so!“ Wirklich clever, der alte Jablonowski, würde man heute sagen. Ruth Geede


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