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22.12.12 / Stadt im Seewind – Marseille / Neben dem slowakischen Košice ist die südfranzösische Hafenstadt die Kulturhauptstadt Europas 2013

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-12 vom 22. Dezember 2012

Stadt im Seewind – Marseille
Neben dem slowakischen Košice ist die südfranzösische Hafenstadt die Kulturhauptstadt Europas 2013

Der Verzehr einer Bouillabaisse, die Lektüre eines Buches von Marcel Pagnol, eine Fahrt zur Gefängnisinsel mit dem Château d’If – das darf keiner versäumen, der Frankreichs älteste Stadt besucht. Aber der Touristen-Hit ist die Hafenstadt Marseille selbst, die sich gerade herausputzt, um als Europäische Kulturhauptstadt 2013 ihren ganzen Glanz zu entfalten.

Ein bleigrauer Himmel hängt heute über der Hafenstadt im Golfe de Lion. Nieselregen setzt ein und schafft ein Verkehrschaos auf der Canebière, einer lärmenden Verkehrsader, die sich frei mit „Reeperbahn“ übersetzten lässt. Hier wurden früher wie in der Partnerstadt Hamburg Taue für die Schifffahrt „geschlagen.“ Gegen Mittag klart der Himmel auf. Eine sanfte Brise weht vom Meer herüber. Die Stadt verwandelt sich wie von Zauberhand berührt von einem Augenblick zum anderen. Die Straßencafés füllen sich mit Menschen, Teller klappern, Gläser klirren. Ein verführerisches Aroma von gegrilltem Fisch, exotischen Gewürzen und Knob­lauch liegt in der Luft.

Die Segelyachten im Vieux Port lichten ihre Anker und nehmen Kurs aufs offene Meer. Die Stadt zeigt jetzt ihr wahres Gesicht, sagen die Marseillais. Der Regen von vorhin war so etwas wie ein „meteorologischer Betriebsunfall.“ Mit der alten Fähre, die schon der berühmte provenzalische Schriftsteller Marcel Pagnol benutzte, tuckern wir gemütlich durch den Mastenwald des Alten Hafens, dessen Quais gerade restauriert und aufpoliert werden. Am nördlichen Ufer liegt das barocke Rathaus. Sehr nüchtern gegenüber seiner Pracht nehmen sich die Zweckbauten zur Rechten und Linken aus. „Kriegsschäden“, sagen die Einheimischen lakonisch. Marseille wurde im Zweiten Weltkrieg arg zerbombt.

„Aber werfen Sie einmal einen Blick auf die Place Villeneuve-Bargenon!“, empfiehlt ein Fahrgast. Hier prunken die meisterhaft restaurierten Fassaden vom Stadtpalais aus dem 17. Jahrhundert. Gerade schneidet eine Jolle die Fähre. Der Mann an Bord grinst und weist auf den Hügel am südlichen Ufer. Auf dem Gipfel erhebt sich die Basilika Notre-Dame de la Garde, das Wahrzeichen Marseilles. Die vergoldete Mutter Gottes mit dem Jesuskind auf dem Arm misst fast 13 Meter. Nachts in gleißendes Licht getaucht, ist diesem im neobyzantinischen Zuckerbäckerstil erbauten Monument ein gewisser Charme nicht abzusprechen. Orientierungslosen Touristen dient die güldene Jungfrau als Wegweiser.

Unser Freund Jean-Louis sieht seine Aufgabe darin, Fremden seine Heimat als ebenso liebenswerte wie interessante Metropole nahezubringen. „Nicht wenige sind der Meinung, Mar­seille sei eine Art französisches Chicago. Hochkriminell und dreckig.“ Eine sehr einseitige Betrachtung, wie nicht nur Jean-Louis meint. Inzwischen wurden große Summen investiert, um Marseilles Image zu verbessern und die südfranzösische Metropole als Mittlerin zwischen den Kulturen Europas und Nordafrikas zu präsentieren. Ein 15000 Quadratmeter großer Glas­quader, der das brandneue Museum für Europa und die Kulturen des Mittelmeerraumes beherbergt, wurde vom französischen Architekten Rudy Ricciotti, einer Art enfant terrible seiner Zunft, entworfen. Und auch das Museum für provenzalische Kunst ist eine Sensation. Die Hälfte dieses futuristischen Bauwerks liegt unter Wasser. Eröffnet werden diese und andere architektonische Wunderwerke allerdings erst anlässlich der Feierlichkeiten zum Kulturjahr „Marseille Provence 2013“ Anfang nächsten Jahres.

Jeder, der Marseille mit offenen Augen und Sinnen durchstreift, wird von dieser quirligen Stadt, die nie zu schlafen scheint, fasziniert sein. Allein ihre Geschichte – Marseille ist Frankreichs älteste Stadt – stellt alle anderen Städte in den Schatten: Bereits um 600 vor Christus zeigten sich griechische Phokäer aus Kleinasien angetan von dem durch hohe Berge geschützten natürlichen Hafenbecken. Als Massalia ging der Ort in die Annalen ein. Von hier aus trieben die Siedler lukrativen Handel mit den Mittelmeer-Anrainern. Im Jahre 49 vor Christus übernahmen die Römer unter Julius Cäsar das Kommando über Stadt und Hafen. Und in späteren Epochen tummelten sich hier Ostgoten, die von den Normannen abgelöst wurden. 1481 fiel die Stadt zusammen mit der gesamten Provençe an die französische Krone und mauserte sich zu einer der wichtigsten Städte des Landes. Im 19. Jahrhundert wurde Marseille nach dem Pariser Vorbild des Barons Georges Hauss­mann mit einem Netz breiter Boulevards neu gestaltet. Protzbauten mit klassizistischen Elementen entstanden, und mit dem Triumphbogen an der Porte d’Aix setzte sich das Kaiserreich ein Denkmal für die Ewigkeit.

Wer mit einem Reiseführer ausgerüstet Marseille erkundet, wird neben bekannten Bauwerken wie dem ältesten, seit 1535 bestehendem Hotel, dem Hôtel de Cabre, dem prächtigen 1593 erbauten Hospital und der Vieille Major, der romanischen Bischofskirche aus dem 12. Jahrhundert, viel Reizvolles entdecken. Insgesamt 16 Arrondissements (Stadtteile) zählt Marseille. Einige davon sind intakte Fischerdörfer mit schmucken Häuschen und farbenfroh lackierten Booten, die direkt vor der Haustür im Wasser dümpeln.

Ein Erlebnis ist der Fischmarkt im Vieux Port am frühen Morgen. Hier preisen Fischer ihren frischen Fang lauthals an: Seebarsch, Peterfisch, Seeteufel und anderes Seegetier. Hausfrauen prüfen die Qualität, feilschen und lassen sich gern mit ihren Einkäufen am Quai des Belges zu einem „petit café“ nieder.

Währenddessen legt die Fähre ab, die ihre Passagiere zum Châ­teau d’If bringt. Hinter den dicken Mauern dieser Zitadelle ließ der Schriftsteller Alexandre Dumas seinen literarischen Märtyrer, den Grafen von Monte Cristo, schmachten. Die Realität sah nicht minder düster aus. Hier wurden nach dem Widerruf des Toleranz­ediktes von Nantes unter Ludwigs XIV. Protestanten und andere der Krone unliebsame Untertanen eingekerkert. Heute hat die Festung ihren Schrecken verloren. Man durchquert hohe Gewölbe und erreicht über steinerne Treppen eine breite Aussichtsplattform, die sich vorzüglich für ein Sonnenbad eignet.

Vor einer Reise nach Marseille ist die Lektüre eines Buches von Marcel Pagnol unerlässlich. Kein anderer Schriftsteller hat die Schlitzohrigkeit des waschechten Marseillais so treffend skizziert wie er. Man trifft seinen Helden Marius, einen etwas aufschneiderischen, zutiefst gutmütigen Bonvivant, auch heute noch mit seinen Freunden Fanny und César in der Bar Marine am Quai de Rive Neuve 14. Hier ersann Pagnol einst seine Romanfiguren.

Nach einem Pastis und kurzem Plausch mit dem „patron“ des Etablissements folgt ein weiteres Abenteuer, das dîner. Wer nennt die Restaurants, wer beschreibt die Speisefolgen? Obligatorisch aber ist der Verzehr einer echten Marseiller Bouillabaisse. Welcher Koch die beste macht, ist schwer zu sagen. Keinen Fehler begeht jener, der die berühmte Fischsuppe im „Miramar“ am Quai du Port 12 bestellt. Der Kellner serviert sie kochendheiß und empfiehlt auch gleich den passenden Wein dazu. Ein Hochgenuss. Bon appétit! Uta Buhr


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