29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
19.01.13 / Erstes Steckenpferd / Vor 200 Jahren starb Chr. Martin Wieland

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-13 vom 19. Januar 2013

Erstes Steckenpferd
Vor 200 Jahren starb Chr. Martin Wieland

Kleines Quiz: Der erste Bildungsroman stammt von wem? Gottfried Keller? Falsch, Wieland. Der erste deutsche Shakespeare-Übersetzer war wer? Schlegel/Tieck? Wieder falsch, Wieland. Die Weimarer Klassik begann mit wem? Goethe? Nein, Christoph Martin Wieland wurde 1772 als erster Dichter von Herzogin Anna Amalia als Erzieher des Erbprinzen Carl August nach Weimar berufen. Erst drei Jahre später folgte Goethe, ehe Herder und Schiller das Viergestirn komplettierten, das Weimar zur deutschen Literaturhauptstadt machte.

Wieland war die Keimzelle der klassischen deutschen Literatur und wurde zu Lebzeiten bewundert wie kaum ein anderer. Selbst Napoleon bat ihn 1808 am Rande des Fürstenkongresses in Erfurt zu einem Gespräch. Doch obwohl die Werke Wielands die Epochen Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang, Klassik und Romantik entweder mitgeprägt oder überdauert haben, so wurde es um Wieland nach seinem Tod vor 200 Jahren am 20. Januar 1813 ziemlich schnell still. Man kennt ihn als den Autor der „Geschichte des Agathon“ oder der „Geschichte der Abderiten“, aber gelesen werden diese Romane heute kaum noch.

Es bleibt eben sein Schicksal, dass er zwar der Initialzünder für viele Dichter war, seine eigenen Werke aber von eben jenen Dichtern übertrumpft wurden. Seine 1766 erschienene „Ge­schichte des Agathon“ beispielsweise gilt als der erste deutsche Bildungsroman. Im antiken Umfeld wird der Athener Jüngling Agathon auf seiner Bildungsreise von idealistischen Philosophen, heimtückischen Tyrannen und wolllüsternen Hetären zum reifen Mann. Doch schon Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ von 1795/96 setzte neue Maßstäbe, ehe dann im 19. Jahrhundert Gottfried Kellers „Der grüne Heinrich“, Adalbert Stifters „Nachsommer“ oder Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“ dem spezifisch deutschen Genre des Bildungsromans zu neuem Glanz verhalfen. „Agathon“ lag da schon lange vergessen in der Gruft.

Ähnlich sieht es mit seiner Shakespeare-Übertragung aus. Noch zu Wielands Lebzeiten drängte die bis heute gelesene romantische Übersetzung der Werke Shakespeares durch Schlegel, Tieck und Baudissin die Arbeit von Wieland vollkommen in den Hintergrund. Dabei ist die Wiederentdeckung Shakespeares überhaupt erst dem oberschwäbischen Dichter zu verdanken.

Es waren wohl fahrende Schauspieler aus England, die in dem 3000-Seelen-Ort Biberach an der Riß südlich von Ulm ihre Bühnenzelte aufbauten und den jungen Wieland erstmals mit den Geschichten um den Vatermord­rächer Hamlet oder das tragische Liebespaar Romeo und Julia fasziniert haben. Als Wieland Jahre später, mittlerweile gereift durch eine achtjährige Ausbildung in der Schweiz bei dem streng auf dichterische Regeln setzenden Literaturkritiker Johann Jakob Bodmer, in seine Heimatstadt Biberach zurückkehrte, bot sich ihm unerwartet die Gelegenheit, seine Shakespeare-Leidenschaft fortzusetzen. 1760 wurde er zum Senator von Biberach ernannt und da es den Beruf des Schriftstellers ja noch nicht gab, nahm er eine Stelle als Kanzleiverwalter an. Das sicherte ihm ein festes Einkommen und die Möglichkeit, in den vielen Kanzleistunden des Nichtstuns – anstatt in damals oft be­währter Beamtenmentalität die Hände in den Schoß zu legen oder ein Nickerchen zu halten –, sich dichterisch zu betätigen.

Nebenbei leitete er eine Laienschauspielgruppe, die „evangelische Komödiantengesellschaft“ und inszenierte Shakespeares „Sturm“. Das Problem: Es gab keine deutsche Übersetzung und Wieland sprach kein Wort Englisch. Aber er war ungemein sprachbegabt. Als Sohn des evangelischen Pfarrers von Oberholzheim – in dem Kaff nahe Biberach wurde Wieland am 5. September 1733 geboren – lernte er mühelos alle altphilologischen Sprachen. In späteren Jahren schuf er bis heute gängige Übersetzungen der Briefe von Cicero und Horaz sowie sämtlicher Werke des griechischen Satirikers Lukian. Sein Schweizer Intermezzo half ihm, seine ohnehin schon vorhandenen Französisch-Kenntnisse aufzubessern. Französisch war damals die Modesprache und wurde selbst am Hofe Friedrichs des Großen gesprochen.

Für die Schauspieltruppe brachte sich Wieland, der nie in England war und kaum je mit Briten ins Gespräch gekommen sein dürfte, die damals exotische Sprache Englisch autodidaktisch bei. Einzige Hilfsmittel waren eine Grammatik und ein englisch-französisches Wörterbuch.

Umso erstaunlicher mutet das Ergebnis an. Es blieb nicht nur bei der Übersetzung des Dramas „Der Sturm“, das 1761 unter dem Titel „Der erstaunliche Schiffbruch“ von den Biberacher Laiendarstellern deutsch uraufgeführt wurde, sondern der Fleißarbeiter Wieland übertrug innerhalb von fünf Jahren 21 weitere Shakespeare-Dramen, alle in Prosa, bis auf „Ein St. Johannis Nachts-Traum“ („Midsummer Night’s Dream“). Klar, vieles wirkt hölzern und unbeholfen, zumal Wieland viele Sprachwitze einfach überlas. Aber es ist auch keine Spur davon, dass er vor dem kniffligen elisabethanischen Englisch jemals einknickt wäre. Wenn es keine deutsche Entsprechung für einen englischen Ausdruck gab, erfand er einfach ein neues Wort. Ein „hobby-horse“, das Hamlet der Ophelia aufbindet (Akt III,2), ist bei Wieland das noch heute gebräuchliche „Steckenpferd“. Auch den Begriff „Kriegserklärung“ haben wir Wieland zu verdanken (für „overture of war“ in Twelfth Night, I,5).

Seine Übersetzung setzte eine Shakespeare-Euphorie in Gang, die von Deutschland aus zurück nach England, wo der Schöpfer von „Hamlet“ fast vergessen war, bis in die ganze Welt schwappte. Wie so oft legte Wieland den Keim, dessen Frucht andere später geerntet haben. So bleibt uns eben sein Name als Markenzeichen erhalten. Harald Tews


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren