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19.01.13 / Mütter schrien nach ihren Kindern / Das Flüchtlingsdrama von Grünhagen vor genau 68 Jahren − Russen schossen auf rund 7500 am Bahnhof Wartende

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-13 vom 19. Januar 2013

Mütter schrien nach ihren Kindern
Das Flüchtlingsdrama von Grünhagen vor genau 68 Jahren − Russen schossen auf rund 7500 am Bahnhof Wartende

Er hat die Zugkatastrophe von Grünhagen als Siebenjähriger selbst erlebt, das unbeschreibliche Chaos gesehen, das in der Nacht vom 22. zum 23. Januar 1945 auf dem kleinen Bahnhof im Kreis Preußisch Holland vor sich ging. Ein erschütterndes Drama der deutschen Fluchtgeschichte, das aber kaum bekannt war und deshalb für den Autor Heinz Timmreck zum Anlass wurde, das Buch „Letzte Flüchtlingszüge aus Ostpreußen“ herauszugeben. So bildet das Kapitel „Das Zugunglück von Grünhagen“ auch den Mittelpunkt dieser Dokumentation, zu der 85 Zeitzeugen mit ihren Berichten beigetragen haben. Sie haben versucht, ihre Erlebnisse in Worte zu fassen, nüchtern, klar, ohne Emotionen und deshalb absolut glaubwürdig − aber das ganze Ausmaß der Tragödie ist eben nicht in Worte zu fassen. Doch zu erahnen, wenn man einige der Hauptszenen aus diesen Erlebnisberichten herausgreift. Der Ort des Geschehens war Grünhagen, ein kleiner Landbahnhof im Kreis Preußisch Holland. Über ihn fuhren die letzten Flüchtlingszüge aus dem südlichen Ostpreußen in dichter Folge nach Westen, nach Elbing und Marienburg. Die russische Front hatte bereits Maldeuten erreicht, als bei Grünhagen vier Züge in einen Auffahrunfall verwickelt wurden, darunter ein Lazarettzug mit Verwundeten aus dem Reservelazarett Mohrungen sowie Flüchtlingszüge aus Hohenstein, Osterode und Maldeuten.

 

Die Flüchtlinge mussten bei eisiger Kälte die Züge verlassen, irrten durch den tiefen Schnee oder kauerten sich im Schutz des Bahnhofsgebäudes zusammen, etwa 4000 Menschen sollen es gewesen sein, insgesamt wird die Zahl der durch das Unglück betroffenen Flüchtlinge und Soldaten auf bis zu 7500 geschätzt. Der Zusammenstoß der Züge war nur der Auslöser zu der Katastrophe, die dann geschah: Der Russe brach mit seinen Panzern durch und richtete ein furchtbares Blutbad an. Eine Mohrungerin erinnert sich: „Im Morgengrauen kamen die Panzer. Der erste Schuss wurde auf die Isolatoren der Leitung an der Bahnlinie abgegeben. Viele versuchten über die Schienen auf das Feld oder in den etwas abliegenden Wald zu fliehen. Sie kamen nicht weit, es wurde weiter geschossen. Dann plötzlich fühlte ich einen furchtbaren Schlag, mein kleiner Sohn fiel mir vom Arm, ich sah, wie der Schnee sich rot färbte“. Nicht nur von ihrem Blut, denn auch ihre Mitgefährten waren verwundet, Tote lagen im Schnee. Ein kleiner, etwa dreijähriger Junge rief nach seiner Mutter, seine Bauchdecke war durchtrennt. „Plötzlich bekam ich von einem Unbekannten Hilfe beim Aufstehen und Verbinden des restlichen Armes. Es war schwierig, denn der zerfetzte Unterarm hing noch dran. Der Mann half mir und meinen beiden Buben über die Toten hinweg bis zur Straße. Das Bahnhofsgebäude war überfüllt mit Verwundeten, es gelang uns aber, in der gegenüberliegenden Molkerei unterzukommen.“ Da das Bluten nicht aufhörte, musste die Verletzte den Unterarm selber mit einer Nagelschere abtrennen und die Aderpresse neu ansetzen. Viele der Flüchtlinge und Soldaten hielten die Panzer sogar für deutsche Kampffahrzeuge, wie ein Landsmann aus Saalfeld, der damals 15 Jahre alt war, berichtet: „In den Morgenstunden des 23. Januar stand plötzlich ein Panzer auf der Chaussee und gab einen Schuss ab, dann kamen fünf weitere Panzer um die Kurve, ... Die zwischen uns Flüchtlingen stehenden deutschen Soldaten sagten, dass es unsere Panzer sein könnten. Erst, als die Männer aus den Kettenfahrzeugen stiegen, sahen wir, dass es Russen waren.

Panik brach aus, alles lief durcheinander, Frauen schrien nach ihren Kindern, die Kleinen nach ihren Müttern. Viele strebten nun dem Wald zu, auch ich stolperte durch den tiefen Schnee und unter Rossgartenzäunen zum Waldrand, ich sah mich nicht um, ein Granatsplitter flog an meinem Kopf vorbei. Im Wald nahm mich eine Gruppe von deutschen Soldaten auf, sie führten uns tiefer in den Wald, aber immer noch hörten wir das Schreien der Frauen und Kinder und das Schießen der Russen. ... Die Soldaten schätzten etwa 5000 Menschen, die der Russe beschoss.“ Unter ihnen muss auch jener damals 15-Jährige aus Mohrungen gewesen sein, der sich noch als betagter Mann an dieses Massaker erinnert: „Die Wirkung der Granaten war furchtbar, auf dem tief gefrorenen Boden war die Wirkung grausam. Die meisten Menschen flohen auf die anliegende Wiese, hier schossen die Helden der Roten Armee so richtig dazwischen. Reihenweise lagen Tote und Verletzte da, viele der Flüchtenden hatten in einem flachen Graben neben dem Bahnkörper Schutz gesucht. Als ein Panzerfahrer das sah, fuhr er auf den Gleisen, dass seine Leute laufend in die Mulde schießen konnten.“ In diesen Graben, mitten zwischen die Toten, fiel ein verwundetes 14-jähriges Mädchen aus Osterode. Dessen Mutter wusste von einem deutschen Offizier zu berichten, der die Menschen, die noch in einem der Unglückszüge saßen, aufforderte, sich auf die andere Seite des Zuges aufzustellen. Dann ließ der Offizier den Mantel fallen, und zum Vorschein kam eine russische Uniform. Jetzt fuhren Panzer auf und die Schießerei auf die Zusammengetriebenen begann, wobei auch die 14-Jährige verletzt wurde. Sie hat später dieses gravierende Ereignis in die gerettete Familienbibel eingetragen, damit es für die Nachwelt erhalten bleibt.

Das waren auch Wunsch und Wille von Heinz Timmreck, als er dieses Buch plante und es dank der vielen Erlebnisberichte auch verwirklichen konnte. Wir können unseren Lesern mit diesen Auszügen nur einen kleinen Einblick in diese einmalige Anthologie verschaffen, die von einem Zeitzeugen zusammengestellt wurde, der schon aufgrund seiner eigenen Erlebnisse ein Garant für die Authentizität dieser Dokumentation ist. (Heinz Timmreck „Letzte Flüchtlingszüge aus Ostpreußen“, Books on Demand Norderstedt, ISBN 978-3-842349-66-7.) R.G.


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