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19.01.13 / Sibirische »Saukälte«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-13 vom 19. Januar 2013

Sibirische »Saukälte«

Laut sibirischer Messlatte sind 4000 Rubel kein Lohn, 4000 Kilometer keine Entfernung, 40 Prozent kein Wodka und 40 Grad kein Frost. Letzteres gilt vor allem im laufenden Winter, da ein verfrühter Eiseshauch aus dem Polarmeer die Temperaturen drastisch senkte. In Moskau wären um diese Jahreszeit minus drei Grad üblich, doch wurde mit minus 30 Grad fast der Kälterekord von 2006 eingestellt.

Nur der frühe Wintereinbruch stört die Russen, denen generell ein echter Winter willkommen ist. Den echten Härtefall kann man aber derzeit schon seit Wochen im sibirischen Krasnojarsk erleben. In der am Fluss Jenisej und an der Transsibirischen Eisenbahn gelegen Millionenstadt, wo sommers plus 38 Grad herrschen, was bei Windstille wegen Industrieabgasen lästig ist, winters aber minus 48 Grad, die sprachlich längst eingemeindet sind: „Saukälte“ ist eine altslavische „stuscha“. Und ein Raureif, der alle Bäume mit Väterchen-Frost-Bärten versieht, ist eine „kuchta“, sehr beliebt bei Modefotografen auf der Jenisej-Insel. Mühe verursacht mitunter der „kurschak“, die meterdicke Schneedecke.

Anderswo in Sibirien riefen Behörden nach über 100 Kältetoten den Notstand aus, in Krasnojarsk tragen Mädchen noch Miniröckchen und Frauen hochhackige Schuhe. Erstmals seit Jahren muss keiner in Pelz und Filzstiefeln in eisigen Wohnungen bibbern, denn Strom, Fernheizung und Gaszufuhr funktionieren. Dank zweier Kraftwerke friert der Jenisej nicht zu, was die russische Leidenschaft fürs Eisangeln be­hindert. Der Verkehr be­wegt sich fast ohne Staus, weil nur wenige Autos liegenbleiben. Pkw-Motoren müssen kaum noch die ganze Nacht laufen, weil sie am Morgen sonst nicht an­springen würden. Garagen werden beheizt, Autos über der Lüftung von Supermärkten geparkt oder mit Standheizungen versehen, wofür findige Händler bei zugefrorenen Pkw mit Visitenkarten werben. Die Behörden raten, auf Busse umzusteigen, zumal kommunale und private Linien fahrplanmäßig fahren. Der Frost hat überhaupt unerwartete Arbeitsmöglichkeiten geschaffen, etwa für Kosaken, die durch private Siedlungen und Gärten reiten, um Einbrecher oder Obdachlose zu ver­scheuchen. Das er­leichtert der Polizei den Dienst, die sich eher und besser um Betrunkene oder Erfrorene kümmern kann.

Wobei solche Ärmsten in Krasnojarsk selten sind, denn hier haben sich alle Lebewesen der Kälte angepasst, bis hin zu den Giraffen im städtischen Zoo. Kinder sitzen Jahr für Jahr bei plus fünf Grad in der Schule, mit dicker Jacke und Pelzmütze. Erwachsene arbeiten frostunempfindlich, etwa als Bauarbeiter in Nachtschicht oder Verkäufer an Marktständen, alte Babuschkas bieten an Ecken Sauerkraut und Tee feil, selbst die „Gastarbajtery“ vom „Chinesischen Handelszentrum“ sind längst winterhart. Pech haben nur ein paar Usbeken, die in Fußgängerunterführungen bei kleinen Feuerchen überwintern müssen.

„Russland, dieses schöne Reich, / würde mir vielleicht behagen, / doch im Winter könnte ich / dort die Knute nicht ertragen“, spöttelte 1840 Heinrich Heine. Diese mit Metallstücken verschärfte Lederpeitsche könnte auch im Hochsommer niemand ertragen. Und trotzdem – in modernen beheizten Zeiten haben russische Winter viel von ihrem früheren Schrecken verloren – quod erat demonstrandum in Krasnojarsk. Wolf Oschlies


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