© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 05-13 vom 02. Februar 2013

Typhus-Epidemie
Ein Arzt beschreibt das Jahr 1868

Ein praktischer Arzt namens Becher wurde im Jahr 1868 nach Stallupönen entsandt, um die Typhus-Epidemie, die sich in Stallupönen und Umgebung ausgebreitet hatte, einzudämmen helfen.

Er war über die Zustände auf dem Land schockiert und schilderte in einem Bericht die schlimmen Bedingungen, unter denen die Erkrankten lebten, wie folgt:

„Die Lazarethe in Pillupönen und Mehlkehmen bergen im Ganzen 46 an der Seuche Darniederliegende, und sind gänzlich gefüllt. – Unter diesen Umständen wird unter der Leitung von Herrn von Wernsdorff soeben ein zweites Lazareth in hiesiger Stadt errichtet …

Fest steht, daß die Krankheit von Lötzen und Rhein ihren Lauf nach Norden genommen hat und vermutlich wird sie in nächster Zeit in den bis jetzt weniger heimgesuchten nördli-chen Kirchenspielen heftiger auftreten – um so wahrscheinlicher, als der Boden für die Entwicklung der Seuche – der schlechte Ernährungsstand der Landbewohner, wie ihre ganze kümmerliche Lebensweise – auch dort ein äußerst günstiger ist. Der Gesundheitszustand ist, selbst wenn wir von dem Typhus absehen, ein jämmerlich schlechter. Schwindsucht, Wassersucht und das ganze Heer der übrigen Krankheiten fordern den reichlichsten Tribut, und wir müßten ein Lazareth von Hunderten von Betten haben, um alle die Kranken hier aufzunehmen, die daheim ohne alle Pfelge verkommen. Die meisten Leute haben ungedielte Stuben, in denen durch Feuchtigkeit gesättigte Erdboden fortwährend seine nassen Dünste aushaucht, und zwar um so mehr, je mehr die Zimmer geheizt werden …

Die Verwahrlosung der niedern Schichten der Landbevölkerung, die nicht allein durch den Notstand, sondern vorzüglich durch ihrer erstaunlichen Indolenz und charakteristische moralische Trägheit bedingt wird, ist nicht zu beschreiben …

Einen wohltuenden angenehmen Contrast bildet zu dieser bedauerlichen Indolenz die Thatkraft der besseren Schichten der Bevölkerung, die sich im Wohlthun, Verpflegung und Kleidung der Nothleidenden überall opferfreudig ausspricht …“

Auszug aus dem Bericht des praktischen Arztes Dr. Becher/Johanniterblatt Nr. 9 vom 26. Februar 1868, S. 50 f.