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02.03.13 / Der Leierkastenmann von der Holzbrücke / Erinnerungen eines Königsbergers in Kanada

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-13 vom 02. März 2013

Der Leierkastenmann von der Holzbrücke
Erinnerungen eines Königsbergers in Kanada

Immer mehr ältere Vertriebene neigen dazu, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, und dabei sind die Männer durchaus nicht in der Minderzahl. Viele kommen nun erst im Rentenalter dazu, sich mit ihrer Kindheit und Jugendzeit zu befassen, vor allem, wenn ihre Nachkommen danach fragen. Das beweisen auch die Zuschriften für unsere Familienseite, weil sich beim Aufzeichnen der frühen Erlebnisse manchmal Fragen ergeben, die der Schreiber nicht lösen kann, und sich dadurch Lücken in der Familienchronik ergeben. Manche Zusendungen an uns beinhalten aber auch keine Wünsche, sondern kleine Episoden aus der – manchmal schon sehr fernen – Kindheit, die bei uns Vertriebenen ja auch immer mit der verlassenen Heimat verbunden ist. Zu ihnen gehört unser Leser Ulrich Karl Thomas, ein Königsberger, der heute in Kanada lebt. Vor zwei Jahren hatte ihn seine Familie überzeugt, seine Kindheitserlebnisse aufzuzeichnen. Da die Kinder aber schon in Kanada aufwuchsen und den Enkeln die deutsche Sprache nicht mehr geläufig ist, verfasste er seine Erinnerungen in Englisch. Aber dann packte ihn das Schreibfieber und zwar gewaltig. Seine Kinderjahre in Königsberg wurden wieder lebendig und damit auch die Muttersprache. So schrieb Herr Thomas manche schon in Englisch aufgezeichneten Episoden ins Deutsche um oder verfasste sie vollkommen neu. Dabei blieb es nicht, er begann Gedichte in deutscher Sprache zu schreiben, teilweise sogar in ostpreußischem Platt. Leider, leider, wie das bei den meisten Lesergedichten ist, sind sie zu lang für unsere Familienseite. Aber die kleine Geschichte von dem Leierkastenmann können wir bringen, und sie wird nicht nur die Königsberger unter unseren Lesern erfreuen. Lassen wir also Ulrich Karl Thomas seine „Kindergedanken“ erzählen:

„Er war nicht mehr da auf der Stelle, wo wir ihn so oft beobachten konnten. Er hatte sich ja ein Plätzchen ausgesucht, das nicht so leicht zu übersehen war. Er stand gewöhnlich auf der rechten Seite, wenn man von der Lomse am Pregel entlang zum Münchenhofplatz ging, auf der Holzbrücke, da, wo das Geländer bis auf die Spitze des Brückenpfeilers ging – dort, wo der eiserne Kasten mit dem Getriebe war, mit dem man die einen der beiden Flügel der Brücke hochdrehte. Viele Leute mussten dort vorbei, wenn sie zum Fischmarkt oder Sackheim wollten. Wir Kinder waren nun verwundert, dass er nicht mehr da war. Die meisten Leute eilten vorbei, vermissten sie ihn nicht, den Leierkastenmann? Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus, wenn er angehumpelt kam, ein Bums und dann ein Schlurren, Bums und Schlurren, bis er mit einem viel lauteren Bums die Beine vom Leierkasten auf den Boden ließ. Er löste den Ledergurt von seinem Nacken, der – über die Schultern geschlungen und an den Griffen befestigt – die Last erleichterte. Dann faltete er den Vorhang, der die Pfeifen und Glocken schützte, auf den Deckel des Leierkastens, stellte eine Schale für die Spenden drauf und humpelte zur Kurbel – und die Musik begann, die irgendwie dieses traurige Bild noch zu vertiefen schien. Sein rechter Oberschenkel endete am Knie in einer arg mitgenommenen Lederhülle, in der ein bis zum Boden reichender Holzstumpf stak. Sein anderes Bein stand steif nach hinten mit dem Fuß so verdreht, dass wir Kinder, auf einem Bein stehend und den Unterschenkel in der Hand haltend, es nicht fertig brachten, unsern Fuß in solche Stellung zu bringen. Warum musste der Mann so laufen, was war mit ihm geschehen? So viele Fragen, die wir gerne beantwortet hätten, aber doch zu scheu waren, sie zu stellen. Wo hatte er wohl den Leierkasten her? Und warum musste der arme Mann mit so großer Mühe seinen Leierkastenwagen wegnehmen, wenn die Männer kamen, um die Brückenflügel hochzudrehen, damit ein großer Dampfer die Brücke passieren konnte? Warum musste er mit seinem Leierkasten so wie wir hinter der Kette warten, bis sich die Flügel gesenkt hatten und die Brücke über den Pregel wieder geschlossen war. Selbst auf unsere Fragen: ,Wo ist er geblieben? Ist er gestorben?‘ gab es keine Antwort. Wir lernten dann doch sehr bald, warum er nicht mehr da war, mussten damit fertig werden, dass Betteln nun verboten war, dass es auch keine ,Luchtepenner‘ mehr gab, Obdachlose, die sich abends in die Wohnhäuser schlichen, ehe die Türen geschlossen wurden, um auf dem Dachboden – der ,Lucht‘ – zu schlafen.“

Damit enden die „Kindergedanken“ von Ulrich Karl Thoma, die er in Kanada niederschrieb. Vielleicht erinnern sich auch noch andere ältere Leser und Leserinnen an den Leierkastenmann von der Holzbrücke, haben einen Dittchen in die Schale geworfen? Vielleicht habe ich es auch getan, wenn wir zum „Johannimarkt“ in der Lindenstraße gingen? Aber das weiß ich nicht mehr. R.G.


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